Wenn der Junge den Berg sieht
Wenn der Junge den Berg sieht
Jean-Pierre Velly (1988)
Es ist kalt an diesem Tag Ende November. Auf dem Schulhof steht ein Junge, die Hände in den Taschen, und schaut. Er beobachtet die anderen Kinder, wie sie glücklich mit ihren Murmeln spielen, doch am meisten schaut er auf die Murmeln.
Der Junge, von dem ich erzählen will, hatte keine Murmeln in der Tasche. Er hatte schwarze Augen, tief und funkelnd wie die Nacht. In seinen Träumen verwandelten sich die Sterne in Murmeln … da rollte der Große Wagen über einen schwarzen Samtteppich, wie die Murmeln auf dem Schulhof. Ein Spiel mit Kometen, Gestirnen und Sternen, die rollen, sich treffen, aufeinanderprallen … eine Explosion aus Licht und Lärm, … so laut, dass der Junge aufwachte.
-Sternfragmenten im Kopf
-Funken in der Seele.
Dann flammte einer dieser Funken auf, und plötzlich entbrannte in der kindlichen Seele ein ewiges Feuer, das Hoffnung gab. Von da an, er war gerade sieben, hatte der Junge ein Ziel, das er nie aus den Augen verlor. Als er fünfzehn war, sagte er sich: »Als Kind hatte ich nie Murmeln, jetzt mache ich meinen Traum wahr: Ich werde ein Murmel haben, eine einzige, aber größer, schöner und vollkommener als alle anderen!«
Er verabschiedete sich von seinem Vater und seiner Mutter und machte sich auf den Weg in die Berge.
Monatelang war er zu Fuß unterwegs, durchschritt Pflanzen, Ebenen und Hügelland. Schließlich erreichte er die Berge – einige erkundete er, andere bestieg er; von den hohen Gipfeln ließ er den Blick schweifen auf der Suche nach dem Berg, der dem Traumbild am nächsten kam. Schließlich entdeckte er den richtigen Berg: Er war kaum bewachsen, und zwischen vereinzelten Bäumen und spärlichem Buschwerk schimmerte der Stein wie Elfenbein; im Unterschied zu den umliegenden dunklen Bergen, deren Abhänge dicht von hohen Bäumen mit schönen geraden Stämmen besetzt waren, die für seine Zwecke wie geschaffen schienen: Daraus würde er ein riesiges Gerüst für seinen Berg bauen. Er machte sich ans Werk …
Die Zeit verging …
Nach und nach fesselte er den weißen Berg mit einem Spinnennetz aus Holzbrettern. Schließlich kam der Tag, an dem der Berg endgültig sein Gefangener wurde, ohne jede Fluchtmöglichkeit.
Außer dem üblichen Bildhauerwerkzeug hatte der Junge auch einige Schablonen mitgebracht, perfekte Halbkreise, die ihm als Hilfsmittel dienen sollten, um seine Arbeit laufend zu korrigieren.
Dann begann er, den Berg zu behauen; er nahm die Vorsprünge in Angriff, glättete alles Schroffe, schmirgelte den Gipfel ab; allmählich nahm der Berg Form an, wurde runder und entwickelte sich (seinem Holzkäfig zum Trotz) langsam, wie bisweilen der Bauch der Frauen, zu einer beweglichen, lebendigen Kugel.
Unermüdlich kletterte der Junge auf die umliegenden Bergspitzen, um die Fortschritte seiner Arbeit zu begutachten, er kontrollierte das Profil des Felsens, überprüfte die Proportionen, stieg wieder von seinem Ausguck herunter, erklomm erneut das riesige Gerüst und setzte sein Werk fort. Langsam schmolz der Berg, wurde von Monat zu Monat kleiner …
Unablässig musterte der Junge sein Werk, brachte hier und da Korrekturen an, und ließ sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen. Der Berg löste sich zusehends auf, näherte sich immer mehr der Perfektion einer Kugel. Endlos lange Jahre zog sich die Arbeit hin …
Dann endlich kam der Tag der Belohnung, ein letztes Nachmessen gab Gewissheit: Die Kugel war vollkommen! Da ging er in die kleine Hütte, in der er all die Jahre gelebt hatte, streckte sich auf seinem Lager aus und umklammerte mit steifen Fingern die vollkommene Kugel. Inzwischen war er neunzig Jahre alt. Die Kugel hatte die Größe einer Murmel.
Wo einst der Berg gestanden hatte, erstreckte sich jetzt eine Halde aus weißen, glänzenden Steinsplittern, die mitunter an Schnee-erinnerten …
Die Zeit verging, sehr viel Zeit …
Eines Tages kamen ein Junge und sein Vater beim Wandern in diese Gegend. Neugierig kamen sie näher, angelockt von dem, was einmal eine Hütte gewesen war: vier Holzbalken, in den Boden gerammt, weder Dach noch Wände … Sie überquerten die Stelle, wo früher die Schwelle gewesen war. Verblüfft nahmen sie den Farbunterschied wahr, rund um die Hütte war alles schneeweiß, die Fläche zwischen den Balken hingegen war erdfarben.
Dann setzten sie ihre Wanderung fort.
Plötzlich sprang dem Jungen etwas ins Auge: Da lag ein kleines, rundes Ding, das gerade durch den starken Kontrast zu den schroffen, scharfkantigen, spitzen Formen rundherum seine Aufmerksamkeit erregte. Er bückte sich, um das Ding genauer anzuschauen, und hob es auf. Es war eine vollkommene Kugel, so groß wie eine Murmel. Hoch erfreut steckte er sie ein: Sobald er wieder zu Hause war, würde er mit seinen Mitschülern damit spielen.
Es ist kalt an diesem Tag Ende November. Der Junge steht auf dem Schulhof, umringt von seinen Mitschülern, die ihn ungläubig ansehen. Schon wieder hat er kein einziges Mal das Ziel verfehlt und eine Menge Murmeln gewonnen.
Wie jeden Tag legt er sie, sobald er nach Hause kommt, in die Schreibtischschublade zu den anderen. Inzwischen hat er Hunderte.
Ein paar Tage später haben seine Mitschüler sämtliche Murmeln verloren; auf dem Schulhof ist er der Einzige, der noch eine Murmel in der Tasche hat, seine weiße Murmel. An diesem Tag nimmt er sie heraus und legt sie zu den anderen in die Schublade. Er denkt nicht mehr daran.
Er dachte nicht mehr daran, bis ihm ein paar Jahre später eines Tages ohne ersichtlichen Grund die merkwürdige Geschichte mit den Murmeln wieder einfiel: Kann es denn sein, so fragte er sich, dass ich bei diesem Spiel von einem Tag auf den anderen plötzlich so viel besser war als alle anderen? Komisch …
Automatisch ging er zum Schreibtisch und zog die Schublade heraus: Sofort fiel sein Blick auf die weiße Kugel, obwohl sie unter einem Berg von bunten Kugeln halb versteckt lag
… Er nahm sie in die Hand und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern. Schon lange hatte er nicht mehr mit Murmeln gespielt. Instinktiv nahm er eine andere Murmel heraus und legte sie auf den Boden. Er stellte sich in angemessener Entfernung auf und warf die weiße Murmel: Sie traf haargenau das Ziel.
Mehrmals wiederholte er den Versuch, jedes Mal mit höherem Schwierigkeitsgrad. Schließlich versuchte er es mit einem unmöglichen Wurf: Er legte die andere Kugel in gerader Linie vor sich hin, aber anstatt in diese Richtung zu zielen, warf er die weiße Murmel nach rechts … Staunend sah er, wie die Murmel eine wunderbare Kurve beschrieb und das Ziel genau in der Mitte traf … Damals war er fünfzehn; er verabschiedete sich von seinem Vater und seiner Mutter, und macht sich auf den Weg in die Berge, die weiße Murmel in der Tasche.
Die Zeit verging …
Als er nach langer Reise ankam, erkannte er sofort die erdfarbene Stelle wieder, wo früher eine Hütte gestanden hatte. Er baute die Hütte wieder auf und ließ sich dort nieder, wild entschlossen, das Geheimnis der kleinen weißen Kugel zu lüften. Er verbrachte seine Tage mit Wandern, dachte nach und betrachtet das herrliche Gebirgspanorama und die strahlend weiße Geröllhalde rundherum …
Eines Tages saß er vor seiner Hütte auf dem Boden und hing seinen Gedanken nach; dabei spielte er mit zwei weißen Felsstückchen und ließ sie mechanisch durch die Finger gleiten. Plötzlich bemerkte er, dass die beiden Stücke genau zusammenpassten: Unter Abermillionen von Steinchen, die alle völlig gleich aussahen, hatte er rein zufällig die beiden gefunden, die zusammengehörten …
Da endlich begriff er, was er tun musste: Mit unendlicher Geduld baute er, Stück für Stück, den gesamten Berg wieder zusammen, bis dieser seine ursprüngliche Form wiederhatte. Nach und nach tauchten sie wieder auf, die Steilhänge, die schroffen Felsvorsprünge, das majestätische Profil, der stolze Gipfel … In seiner ganzen Pracht ragte der Berg nun vor ihm auf, weiß schimmernd wie Marmor und herrlich unregelmäßig gezackt. Ausgiebig betrachtete er ihn, dann ging er in seine Hütte, in der er so viele Jahre gelebt hatte. Inzwischen war er neunzig Jahre alt. Er streckte sich auf seinem Lager aus und umklammerte mit steifen Fingern die kleine vollkommene Kugel, die Murmel seiner Kindheit. Die letzte Vision, die er von dieser Welt hatte, war das Bild von seinem Berg: Er war der einzige, der wusste, dass es in der Mitte einen vollendet kugelförmigen Hohlraum gab – einen Hohlraum, so groß wie eine Murmel.
Jean-Pierre Velly
Formello, 1988
Aus dem Italienischen von Petra Kaiser
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