Jean-Pierre Velly im Gespräch mit
Jean-Marie Drot
Ein Dialog aus dem Jahre 1989
Aus dem Französischen von Marie-Louise Brüggemann
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In Formello, auf etruskischem Boden, habe ich Jean-Pierre Velly zum ersten Mal getroffen. Seit langem hatte ich schon den Wunsch, ihn kennenzulernen. Ich sehe sein Atelier, das Atelier eines Alchimisten, noch ganz genau vor mir: Er hatte dort Tausend bunt zusammengewürfelte Gegenstände zusammengetragen, ein Durcheinander, das dem Flohmarkt an der Porta Portese alle Ehre gemacht hätte. Knochen von Maulwürfen und von Feldmäusen. Libellenflügel. Skelette, fein wie Spitzen, Überreste kleiner Wiesenund Waldvögel …
Nach seinem mysteriösen Tod habe ich im Oktober 1993 in der Villa Medici eine Ausstellung seiner Werke organisiert; einige Monate bevor er starb hatte ich mit ihm ein freundschaftliches Gespräch auf Band aufgenommen. Ich drücke die Taste des Tonbandgeräts. Ich höre:
J.M.D. Jean-Pierre Velly, Sie sind Maler, Grafiker, Aquarellist. 1967 sind Sie als Stipendiat in die Villa Medici gekommen, das heißt zwei Jahre bevor André Malraux den Prix de Rome abgeschafft hat.
J.P.V. Und ich kann auch mit einer gewissen Ironie sagen: »Ich bin, was die Grafik betrifft, der erste und der letzte Künstler, der den Prix de Rome erhalten hat.«
J.M.D. Wie war das Leben der dortigen Stipendiaten zu jener Zeit?
J.P.V. Ich hatte gerade mein Studium an der Kunstakademie und an der Schule des Louvre abgeschlossen. Mich plötzlich in der Villa wiederzufinden war, als ob ich im Paradies gelandet wäre. Zu jener Zeit ähnelte die Académie de France in Rom stark einem laizistischen Kloster, doch für mich war es auch ein heiliger Ort. Monatelang war ich mit mir selbst konfrontiert: Arbeiten oder herumbummeln? Mich anpassen oder der Faszination Roms widerstehen? Einzelgänger sein oder freundschaftliche Beziehungen mit den italienischen Künstlern knüpfen? Ihre Sprache lernen oder nicht? In Wirklichkeit, das ist mir später bewusst geworden, hing alles nur von mir ab.
J.M.D. Hatten die Stipendiaten der Villa 1967 auch noch vertragliche Verpflichtungen?
J.P.V. Gar keine: Die »Entsendungen aus Rom« gab es nicht mehr. Balthus, unser Direktor, hatte vollstes Vertrauen zu uns. Zum Beispiel, wenn ein Architekt einige Monate in den USA verbringen wollte, kein Problem, er konnte dorthin fahren. Das galt auch für alle anderen Stipendiaten, für Maler, Musiker, Kupferstecher und Medailleure. Wenn der Aufenthalt für manche von uns belastend wurde, konnten wir in die Abruzzen flüchten oder nach Frankreich zurückkehren. Mit dem Segen von Balthus. Prinzipiell untersagten die Vorschriften der Académie de France in Rom derlei Eskapaden, doch Balthus hielt uns die Tür offen. Immer. Ich selbst habe mich kaum fortbewegt. Ich habe hart gearbeitet. Mit meinem »Prix de Rome« war mir ein Manna vom Himmel gefallen. In Paris hatte ich offen gestanden kein sehr bequemes Leben und kam gerade so über die Runden; dann plötzlich 500.000 Lire jeden Monate zu erhalten grenzte daher an ein Wunder. Mein Glück dauerte drei Jahre und vier Monate – das war die für das Stipendium vorgesehene Zeit. Ich hatte ein Atelier zum Arbeiten. Ein kleines Haus und Geld zum Leben. Einen unvergesslichen Direktor. Was will man mehr?
J.M.D. Lassen Sie uns ein wenig über Balthus sprechen. Aber über welchen Balthus? Den Direktor, der die Villa Medici erneuert hat? Oder Balthus, den Maler?
J.P.V. Bei Balthus sind die Grenzen fließend. Der »Erneuerer« hat der Villa eine Authentizität wiedergegeben, die ich als visionär bezeichnen würde, denn Balthus hat sich nie unter das Joch der historischen Vorgaben begeben. Diese gewaltige Aufgabe hat ihn vollkommen in Anspruch genommen, so dass er während dieser sechzehn Jahre in der Villa selten malen und fast gar nicht zeichnen konnte. Mit uns war Balthus zutiefst menschlich, tolerant und vor allem respektvoll gegenüber unserer Arbeit. Er mischte sich nicht ein. Er urteilte nie über uns. Mit Abstand betrachtet, gelingt es mir nicht mehr, den Menschen von seinem Werk zu trennen. Er war ein extrem strenger, gründlicher Künstler und hat niemals einen Kompromiss gemacht. Er ist ein Meister; für mich ist ein Meister jemand, der den Mut hat, mit sich selbst bis zum Äußersten zu gehen. Je menschlicher und fruchtbarer das Terrain ist, aus dem der Gedanke kommt, desto tiefer ist der Sinn, desto größer die Authentizität. Wenn ich ein Bild von Balthus sehe, sage ich mir: »Hier ist nicht die geringste Täuschung, nicht die geringste Mogelei.« Wir sind weit entfernt von einem Durchschnittskünstler. Wir stehen vor einem absolut bedeutenden Maler. Was erzählt Balthus? Weit über die Porträts junger Mädchen hinaus (auf die Dummköpfe ihn immer zu beschränken versuchen) erzählt Balthus uns mit einem sehr großen, stillen Schmerz von Geburt und Tod. Wie Corbière es ausdrückt: »Ich habe in jedem Fetzen meiner zerschlissenen Kleidung meine Haut gelassen.« Für mich ist Balthus die große Stimme des Einzelgängers.
J.M.D. Welche sind für Sie, neben Balthus, die großen Künstler des 20. Jahrhunderts?
J.P.V. Zweifellos Giacometti; De Chirico bevor er dreißig wurde (er hat eine Tür geöffnet, und ich weiß nicht, was er sehen konnte, doch er hat sie gleich wieder zugemacht); der junge Dalí, Morandi, Bacon, der in der Lage war, sich nackt zu zeigen. Auch er ist ein Großer.
J.M.D. Nach Ihrem Aufenthalt in der Villa sind Sie nicht nach Frankreich zurückgekehrt, Sie beschließen, in Italien zu bleiben; Sie ziehen mit Ihrer Familie nach Formello, einem kleinen etruskischen Ort, etwa 25 Kilometer von Rom entfernt. Und hier arbeiten Sie auch heute noch. Sie versuchen, sich nicht nur ein Exil einzurichten, sondern, wenn ich es so sagen darf, eine Verpflanzung zu schaffen.
J.P.V. Als meine drei Jahre und vier Monate in der Villa Medici zu Ende waren, haben meine Frau Rosa und ich uns gefragt: »Gehen wir zurück nach Paris?« (Das machen die Stipendiaten normalerweise, nicht wahr?) Ich habe mir gesagt: »Paris ist eine gute Idee, aber warum? Was hätte ich in Paris mehr als hier? Die wichtigsten geographischen Orte sind die geistigen Orte. Die geistige Geographie und nicht die irdische. Ich hatte in Italien nicht das Gefühl, in einem fremden Land zu sein.«
J.M.D. Haben Sie die Sprache gelernt?
J.P.V. Ich habe Italienisch gelernt, als ich die Villa verließ; ich spreche immer noch sehr schlecht, aber ich atmete eine Art von Freiheit, die ein Teil von mir ist, ich fühlte mich wohl und meine Frau auch. Nachdem wir in der Villa gelebt hatten, in diesem riesigen Park, konnten wir uns überhaupt nicht vorstellen, eine Wohnung mitten in Rom zu suchen. Wir haben uns in der Umgebung umgesehen, nach einem kleinen Ort, nicht zu weit entfernt, einladend, so wie damals Formello. So einfach ist das. Ohne das Problem mit Heimat, mit Frankreich, mit Italien. Ich muss auch hinzufügen, dass ich das Glück hatte, einen Händler zu treffen (auch wenn ich diesen Begriff nicht mag), einen römischen »gallerista« im wahrsten Sinne des Wortes, der seine Arbeit liebt und mir die Möglichkeit gegeben hat, in Frieden zu leben; ich spreche von der Galerie »Don Chisciotte« und von meinem Freund Giuliano de Marsanich.
J.M.D. Aber kommen wir zurück auf das, was man eine »kleine Anleitung für einen Bretonen, der in Italien leben möchte« nennen könnte.
J.P.V. Wissen Sie, ich bin ein Bretone von der Küste; das heißt, nicht weit vom Meer entfernt. Alle Völker, die am Meer leben, betrachten den Horizont. Lassen Sie uns diese Vorstellungen von Meer und Horizont erweitern. Wie ich Ihnen zuvor gesagt habe, sind die geographischen Orte geistig: es ist die Frau, die Sie lieben, Ihr Kind; es ist Ihr Freund, doch die Bäume sind in Europa alle ungefähr gleich …
J.M.D. Sprechen wir über Ihre Arbeit. Ich habe Sie einmal in Formello besucht, und in Ihrem Haus kam es mir vor, als ginge ich geradewegs in eine Ihrer Grafiken hinein: die Anordnung der Räumlichkeiten, der Gegenstände, das kleine Labyrinth, die recht steile Treppe, der große Atelier-Raum … Ich habe mich gefragt, ob die Grafik, mehr noch als die anderen Künste, nicht etwas ist, dass sich einzig und allein im Kopf abspielt?
J.P.V. Da stimme ich Ihnen absolut zu. Nicht nur die Grafik, sondern die Malerei, die Musik, das Schreiben, die Architektur … Alles spielt sich ausschließlich im Kopf ab.
J.M.D. »Cosa mentale.« Mario Praz schreibt in dem wichtigen Buch, dass er Ihrem grafischen Werk gewidmet hat, »dass darin auf seltsame Weise auf die Kunst des Nordens Bezug genommen wird«. Es scheint so, als ob eher der Mensch Velly von Italien geprägt worden ist, als seine Kunst. Wie denken Sie darüber?
J.P.V. Der Norden, der ist in mir. Ich bin Bretone, und ich bin selbstverständlich von seinem Gegenteil fasziniert. Es ist kein Zufall, dass Poussin und Claude Lorrain hierher gekommen und hier geblieben sind. In den Bildern von Lorrain entdeckt man deutlich den römischen Einfluss. Ich selbst bin erst 46 Jahre alt, und es ist durchaus möglich, dass Rom eines Tages in meinen Arbeiten wieder zum Vorschein kommt.
J.M.D. Die Inkubationszeit ist zweifellos sehr lang. Nehmen wir zum Beispiel eine Ihrer Grafiken: Der Schlüssel der Träume. Da sehen wir eine sehr italienische Frauenfigur; man könnte meinen, sie sei direkt einem Gemälde von Pontormo entsprungen.
J.P.V. Ja. Sie scheint mit dem Fallschirm von einem italienischen Himmel in eine Landschaft abgeworfen zu sein, die alles ist, nur nicht italienisch. Das schafft einen Kontrast; es ist dieses alles und dessen Gegenteil. Es ist das gestörte Gleichgewicht, das in uns ist, dieses Gefühl, ständig auf des Messers Schneide zu sein.
J.M.D. Was mich ebenso bei Ihnen beeindruckt, ist das Interesse, das Schriftsteller und Dichter an Ihrer Arbeit haben. Jean Leymarie, Giorgio Soavi, Sciascia und Moravia haben unter anderem Texte über Sie geschrieben.
J.P.V. Ich bevorzuge die Aussage von Dichtern und Schriftstellern. Die wahren Kunstkritiker sind selbst auch Dichter, die anderen haben ihren Kopf vollgestopft mit historischen Bezügen; sie sind versessen auf Wertungen und brüsten sich damit, zu sagen: »Das ist neu«; aber die Venus von Milo ist immer noch aktuell und Rembrandt immer noch lebendig. Nichts ist neu. Nur unser Leben ändert sich.
J.M.D. Die Grafik nimmt in Ihrem Werk einen enorm großen Platz ein. Welches sind Ihre Vorbilder?
J.P.V. Da gibt es viele. Bresdin, Seghers, Rembrandt, Schongauer, Dürer … Ich bin den Weg der Kunst gegangen, indem ich zuerst gezeichnet und alles durchgekämmt habe, um schließlich die allerschlichteste Sprache zu wählen, die es gibt, die Grafik, das Schwarz, das Weiß, den Punkt. Das Weiß ist die Annahme aller Sonnenstrahlen; das Schwarz deren totale Negation. Der Punkt ist für den Grafiker die Einstichstelle der Stahlnadel auf einer Kup ferplatte, wenn von der klassischen Stecherkunst die Rede ist. Was ist der Strich? Man lässt diesen Punkt auf der kupfernen Oberfläche gleiten und erhält einen Strich, der (oh Wunder!) gebogen, gebrochen, durchgehend und unterbrochen sein kann. Ich habe mich lange zu dieser Askese gezwungen, indem ich jeden Kunstgriff abgelehnt habe.
J.M.D. Wann ist dann auf diesem langen Weg des Schwarz und Weiß die Farbe dazugekommen?
J.P.V. Es gibt kein genaues Datum. Die Farbe kam vielmehr im Laufe der Zeit auf eine sehr sanfte Art hinzu. Für mich eröffnete sich eine neue Welt nach diesen langen, mühseligen und zugleich glücklichen Jahren, in denen die Präzision, die Härte des Schwarz und Weiß die Oberhand bekommen hatten.
J.M.D. So sehr Ihre Grafiken uns eine pessimistische (um nicht zu sagen apokalyptische) Sicht auf die Welt vermitteln, so sehr lässt ein gewisser Eindruck von einem Neubeginn in Ihren Aquarellen in mir den Gedanken zu, dass letztlich wieder eine neue Welt entstehen kann.
J.P.V. Anstatt von Pessimismus würde ich lieber von Realismus sprechen. Ich sage oft: »Das Leben ist eine wunderbare Geschichte, die schrecklich schlecht endet.« Wir leben; Rom ist da; der Himmel ist blau; und ganz gleich, was das Warum und das Wie dieser geheimnisvollen Angelegenheit auch ist, eines schönen Tages ist man tot. Der Tod eines Menschen ist dramatisch für denjenigen, der stirbt, doch vergleichsweise wenig für all die anderen. Weiten wir jetzt diese Vorstellung auf die gesamte Menschheit aus. Wie wird das Ende unserer Welt sein? Die Explosion des Planeten Erde? Ein winzig kleiner Zwischenfall im Rahmen des Universums. Das menschliche Leben wird bestimmt durch die Zeit. Wenn wir versuchen, die Zeit außer Acht zu lassen, sind wir schon etwas befreiter. Es gefällt mir, dass ich mit den Farben erzählen kann, dass nichts ernst ist, dass ich eines Tages sterben werde, doch dass die Menschheit weiterbesteht, selbst wenn das Leben auf der Erde eines Tages nicht mehr existiert … Das ist eine Art von Realismus, der dramatisch scheint, der es aber eigentlich nicht ist.
J.M.D. Jean-Pierre Velly, Ihr Werk scheint nicht zeitgemäß. Mit Stolz, Eleganz und Hartnäckigkeit setzen Ihre Arbeiten das fort, was man als die Renaissance, jene große italienische Strömung, bezeichnen könnte; wie erleben Sie diese Situation als Künstler außerhalb der Aktualität der gegenwärtigen Bestrebungen?
J.P.V. Ich werde Ihnen eine ganz einfache Antwort geben. Ich bin ein Mann der Gegenwart, ich spreche hier und jetzt mit Ihnen; ich bin kein Phantom, und daher finden sich Spuren der Gegenwart in dem, was ich tue. Ohne dass ich es will. Ich hätte gern, dass es keine Spuren gäbe, dass ich aus meiner Arbeit jede Art von Historizität streichen könnte. Das würde dann zu einer sehr viel umfassenderen Aussage führen, einer menschlicheren. Das ist es, worum ich mich bemühe. Wenn ich einen Stift in der Hand habe, möchte ich zeichnen, die unpersönlichste Sache, die es gibt, festhalten. Das wäre mein Ideal. Das möchte ich.
J.M.D. Ich würde das Gespräch gern abschließen mit einem Rat von Jean-Pierre Velly an die, die nach ihm gekommen sind. Was würden Sie den neuen, den zukünftigen Stipendiaten gern sagen?
J.P.V. Ich begnüge mich damit, ihnen überhaupt keinen Rat zu geben. Alles hängt von jedem Einzelnen ab. In der Villa Medici, wie überall.