Karl Bühlmann
Katalog Schindler (1972)
Jean-Pierre Velly und sein Werk sind schlechthin erstaunlich: überraschend ist die Art und Weise, wie Velly sozusagen als Einzelganger innerhalb modernsten Kunsttendenzen unbeirrt die Graveurkunst pflegt, bemerkenswert ist die Beherrschung der Techniken von der Radierung bis zum Kupferstich, und verbluffend schliesslich das Alter des in Rom lebenden Franzosen, der 1966 mit 24 Jahren den "Grand Prix de Rome" in Empfang nehmen durfte. Diese Anerkennung war mehr als verdient; die Ausstellung in der Galerie Schindler in Bern - die bisher grösste und umfassendste Schau über das Oeuvre Vellys - beweist das deutlich, indem sie die Entwicklung der letzten Jahre, die Hinwendung zum naturalistisch Phantastischen, aber auch die thematische Vertiefung zum melancholisch und schicksalshaft verknüpften menschlichen Dasein aufdeckt. Die Flatter, die Velly in tage – Oder auch monatelanger konzentrierter Arbeit hervorbringt, wecken Erinnerungen. Der Ausstellungsbesucher, der meist nur allzuschnell versucht, Künstler und Werk zu klassifizieren und kategorisieren, wird bei Velly sich sofort dankbar an Albrecht Dürer besinnen - ohne sich des interessanten Details aber richtig bewusst zu werden, dass die Arbeit des Lateiners Velly tatsachlich mehr gegen den Norden hin orientiert ist. Vorbilder lassen sich ohne weiteres noch andere herbeiziehen, beispielsweise Schongauer und Cranach, oder Altdorfer und Graf. Doch Velly so zu bewerten und mit Dürer zu vergleichen - bloss weil er in artgemässer und unvergleichlicher Exaktheit das Detail innerhalb scheinbar ähnlich gelagerten Motiven pflegt – ist selbstverständlich unrichtig. Jean-Pierre Velly geht zwar von «alten» Oder «klassisch» anmutenden technischen Formprinzipien aus. Doch er findet sich darin zu einer neuen, seinen Ideen angepassten Darstellung, von welcher es sich behaupten lasst, dass sie erst im heutigen Jahrhundert und nach der surrealistischen Epoche möglich wurde.Dass der Betrachter trotzdem an Dürer oder andere alte Meister erinnert wird, liegt einesteils in der Verunsicherung durch das mittelalterlich -gekonnt erscheinende und sicher-stupende zeichnerische Können Vellys, andererseits in den wunderlich und bizarr phantastischen Bildwelten begrundet.
Wenn sich der Künstler, im Stile eines Chronisten, der aus weiter Distanz Mensch und Landschaft beobachtet und in Verbindung zueinander bringt, sich theoretisch selbst über Naturgesetze hinwegzusetzen scheint, ist auch der Einstieg in die im Unterbewusstsein existierenden Traum- und Gedankenraume gegeben. Doch ein zweiter Blick genügt um festzustellen, wie verwischt die Grenzen zwischen Realität und Unwirklichkeit sind, wie nahe beieinander auf den Arbeiten Vellys deshalb Naturalismus und Realismus Platz finden. Der persönliche Stellenwert und die eigene Perspektive jedes Dinges, die Verschmelzung von Formen aus Natur und Mechanik, die Passivität des vorläufig den Vordergrund dominierenden Menschen und die nicht aufzuhaltende Vegetation lassen wuchernde Landschaften entstehen, die allen surrealistischen Elementen zum Trotz einen Realitätscharakter beinhalten: Der Prozess der Metamorphose offenbart sich. Dieses Thema der Verwandlung und Verwanderung schimmert bei Velly immer durch: Wenn Wasser und Land, Wolken und Pflanzenwelt sich berühren und miteinander verbinden, menschliche Antlitze im verästelten Blattwerk zum Vorschein kommen, oder weibliche Anatomie sich in ein Gewirr von organisch - verwobenen Teilen selbst seziert. Immer ist Tod im selben Augenblick mit dem Begriff der Geburt verknüpft; Zerstörung bedeutet Aufbau, industrielle Flora heisst geologische Schichtung innerhalb eines neuen Fundamentes: Der unabdingbare Rhythmus der menschlichen Leiber in «Le massacre des innocents» gehört dazu wie die schon-kühle frauliche Figur in «Rosa au soleil», die kämmend und der Sonne zugewandt, die Metamorphose selber miterlebt.
In aller Phantastik von Jean-Pierre Velly liegt also auch Optimismus und Wahrheit. Optimismus, wie er zur Philosophie des Lebens gehört, und Wahrheit, die sich über die Wirklichkeit hinauswagt, um auch die Traumwelt zu erobern.
Karl Bühlmann