Julie und Pierre Higonnet
Katalog Panorama
Körper und Landschaft: Mikrokosmos und Makrokosmos im Werk von Jean-Pierre Velly
Aus dem Französischen von Marie-Louise Brüggemann
»Man spricht immer von Mikrokosmos und Makrokosmos, um sich verständlich zu machen. Doch ich glaube, dass beides exakt das Gleiche ist. Es ist eigentlich ein Problem, das es gar nicht gibt. Man muss Worte gebrauchen, doch es ist das Gleiche, oder? … Zwischen winzig klein und riesengroß gibt es keinen Unterschied. Man rechnet in Stunden, in Kilometern, in Lichtjahren … Das sind Maßeinheiten und, noch einmal, Worte, mit denen man sich ausdrückt, um zu versuchen, so gut wie möglich das zu beschreiben, was man sagen möchte … Was bedeutet das denn, Millimeter, Lichtjahre? Das ist letztlich doch nicht wichtig, oder?« (Jean-Pierre Velly im Gespräch mit Michel Random, 1983)
Wenn man die Darstellung der Beziehungen zwischen Mensch und Landschaft in einem Kunstwerk betrachtet – oder erst recht im Gesamtwerk eines Künstlers –, dann sagt das viel aus über das Weltbild seines Schöpfers. Jean-Pierre Velly, 1943 geboren, war Grafiker, Zeichner und Maler, als seine Karriere 1990 brutal beendet wurde. Seine ersten verzeichneten Werke stammen aus dem Jahre 1961.
In seinem dreißigjährigen Schaffen lassen sich zwei Perioden erkennen1: Die erste geht von 1961 bis etwa 1972 und ist fast ausschließlich der fantastischen Grafik gewidmet, mit dem Stichel ausgeführt, dazwischen auch Radierungen, in Schwarz und Weiß gedruckt. Der Mensch verliert sich in einer oft bedrohlichen Natur, in der er nur ein winziges Element unter anderen ist. In Wirklichkeit und nach außen hin drehen sich die Themen aus dieser Periode um den Sturz, um Gespenster, um den weiblichen Akt und die Mutterschaft, um die Verseuchung der Natur durch den Menschen. Es ist eine sehr dichte, gedrängte, beunruhigende, komplexe Grafik mit kunstvollen Kompositionen, die nicht selten an Bresdin oder Dürer erinnern.
In der zweiten Periode (1972–1990) tritt an die Stelle der Grafik nach und nach die Zeichnung, die Tuschzeichnung, das Aquarell und das Ölgemälde. Er malt eine Welt, in der der Mensch den Tieren, den Insekten, den Bäumen und den Gegenständen gleicht. Es ist eine vollkommene Gleichheit, die Werteskala ist aufgehoben: man befindet sich vor einem Universum, in dem alles gleichwertig ist, reversibel und spiegelbildlich. Es sind ganz grundlegende Kompositionen: Vasen mit Blumen, Landschaften am Meer oder aus der Umgebung Roms, Porträts von Kindern oder alten Menschen, Selbstbildnisse und Bilder von Insekten, beeindruckende Bäume und welke Blätter beflügeln seine Phantasie. Auch wenn die Ausdrucksmittel sich entwickelt haben, sind diese beiden Phasen doch nicht völlig verschieden; in Wahrheit ergänzen sie sich. Das Werk Jean-Pierre Vellys überrascht sogar durch seine extreme logische Kohärenz; jedes Werk enthält im Keim Elemente des folgenden. Diese technische und zugleich stilistische Entwicklung ist das Ergebnis eines langen und geduldigen Weges, einer mit der Zeit gereiften Überlegung. Doch abgesehen von der Technik beruht diese ausgeprägte Einheit auf einer sehr sonderbaren Weltanschauung. Die Kupferplatte des Grafikers ist ein Spiegel, und sie zu bearbeiten ist eine gefährliche Konfrontation. In den Tausenden von Stunden, die er damit verbracht hat, fantastische, manchmal düstere, sogar alptraumhafte Welten zu schaffen, ist Jean-Pierre Velly in der Tat ganz in sein Innerstes vorgedrungen, »in seine eigene Hölle«, wie er es Michel Random gegenüber in einem Gespräch aus dem Jahre1982 offenbart2.
Es lässt sich erahnen, dass in seinen Arbeiten Körper und Landschaften in einer sehr engen Beziehung zueinander stehen: Man entdeckt in diesem Werk – wenn man sich die Mühe macht – menschenähnliche Landschaften, aber auch Körper, die Landschaften gleichen.
Die Landschaft wird Körper
Die erste Grafik, die wir von Jean-Pierre Velly kennen, ist Landschaft mit abgestorbenem Baum3 aus dem Jahr 1961. Er ist 18 Jahre alt und begeistert sich für die alten Meister, insbesondere für die der Schule Nordeuropas: Martin Schongauer, Albrecht Dürer, Mathias Grünewald. Während seiner Studienzeit in Paris geht er häufig in Museen und kopiert Bilder aus dem Louvre: Er setzt sich mit den Werken der großen Meister auseinander. Und es ist ganz natürlich, dass er das Instrumentarium des Fantastischen übernimmt. Die Grafik ist ein Lieblingsmedium der Künstler, die sich dem Fantastischen widmen, so als ob das Schwarz und das Weiß, losgelöst von einer realen, farbigen und dreidimensionalen Welt, zur Erforschung des Traums einlädt.
In seinem Aufsatz »Doppelt sehen: Theorie des Bildes und Methodik der Interpretation« zeigt Dario Gamboni4, dass diese doppelten Bilder in der Kunst virtuell, verborgen oder auch zufällig, das heißt unbeabsichtigt sein können. Bei Dürer oder mehr noch bei Dalí sind diese Bilder absichtlich verborgen; sie laden den Betrachter ein, die betreffende Szene aufmerksamer anzusehen, und bieten Ebenen des Lesens und Träumens, die immer intensiver und bedeutsamer werden.
Die doppelten oder virtuellen Bilder sind im Werk Jean-Pierre Vellys äußerst zahlreich, sie sind zweifelsohne eines seiner wesentlichen Merkmale. Seine frühen Grafiken sind bevölkert von furchterregenden und melancholischen Figuren (Grotesken, Illustration für ein Märchen, Sturz); kleine nackte Menschen sind verloren in unermesslichen, künstlichen Landschaften, in denen sich das Natürliche und das Konstruierte vermischen und über die sich ein von üppigen Dunstschwaden verdunkelter Himmel wölbt. Immer wiederkehrende Elemente wie die Steilküsten, die Wolken, die Faltenwürfe oder auch die knorrigen Bäume sind die bevorzugten Stützen für die Doppeldeutigkeit der Zeichen und der menschenähnlichen Fantasiegebilde. Sie laden den Betrachter ein, in diesen verwickelten und zusammenstoßenden Linien mehr oder weniger geplante Profile, Gesichter und Körper zu entdecken. Manchmal ist die Vorgehensweise überlegter: Der Vordergrund von Felslandschaft (1965, auch Hommage an Bresdin betitelt) wird von einem Felsvorsprung eingenommen, halb Fels, halb Konstruktion in Form eines Kopfes oder Schädels mit wütendem Blick, der nackte, kahlköpfige Menschen überragt, die am Rande eines Abgrunds zu stürzen drohen. Auf seinem Gipfel erinnert ein anderer Fels auch an ein Gesicht. Dieser Hügel sieht aus wie der Torhüter am Eingang zur Hölle, der die neu ankommenden Verdammten empfängt.
Einige Figuren finden ihre Silhouette in einem anderen Element der Komposition wieder, das ein erstarrtes Echo in der Landschaft bildet. In Illustration für ein Märchen (1965) schaut eine krallenbewehrte Teufelin in die Ferne; sie sitzt in einer melancholischen Pose auf einem knorrigen Baumstamm. Rechts im Bild ist eine zerklüftete Felsenküste zu sehen, die diese Pose wiederholt, wenn auch seitenverkehrt. Die düstere Stimmung dieser Hexe überträgt sich so auf die gesamte Komposition. Diese Grafik erinnert stark an Die Hölle (1500–1504), ein Ölbild auf Holz von Hieronymus Bosch, das im Dogenpalast in Venedig hängt. Im Vordergrund sitzt dort auch eine Figur in ähnlicher Haltung, und sie findet ein Echo in dem brennenden Felsvorsprung im Hintergrund der Szene. In Maskerade für ein gezwungenes Lachen (1967) geistern gespenstische, fratzenhafte Köpfe in den Wolken herum, und das Profil eines der Köpfe wiederholt sich in den Konturen der direkt darunterliegenden Felsenküste. Wenn man diese Ansammlung genauer betrachtet, erkennt man an die zehn Gesichter. Es ist eine bewohnte, von Gespenstern belebte Natur, die uns der Künstler in dieser Grafik präsentiert. Diese Phantome haben einen Namen: Es sind die Anaons der bretonischen Sagen, die Geister der Verstorbenen, die auf der Erde umherirren. Im selben Jahr entsteht Langsamer Walzer für den Anaon. Dort ruhen zwei liegende Figuren auf Holzsärgen und zahlreiche Gesichter verbergen sich im Halbdunkel, in den Zweigen der Bäume, in den Knästen des Holzes. »So eilig wie die Grashalme auf den Feldern oder die Wassertropfen im Regenschauer haben es die Seelen, die auf Erden ihr Fegefeuer durchlaufen« lesen wir in den Legenden über den Tod, einer Sammlung von Geschichten und Zitaten, die der bretonische Volkskundler Anatole Le Braz5 zusammengetragen hat. Maskerade für ein gezwungenes Lachen mit seinen geisterhaften Köpfen, die in den Wolken schweben, könnte durchaus eine makabre Anspielung auf das Bild von Andrea Mantegna Minerva verjagt die Laster aus dem Garten der Tugend6 sein, auf dem Gesichter, die den Gott Typhon darstellen, in den Wolken verborgen sind.7 In Senza Rumore8 I und II (1969) werden zwei gleichartige Landschaften von gespenstischen Köpfen bevölkert. Auf dem ersten Bild liegen sie mit geschlossenen Augen unter der Erde, in einer Umgebung, die keine menschlichen Spuren aufweist. Zwei Bäume umrahmen die Komposition; der Himmel besteht nur aus einer riesigen Wolke und nimmt ebenso viel Platz ein wie die Berge und die Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckt. Senza Rumore II ist sowohl das Pendant als auch das Gegenteil des ersten Bildes: Eine riesige Müllhalde hat die Erde bedeckt und anstelle der Bäume auf der ersten Grafik liegen hier eine Menge Schrott und Autowracks. Die Köpfe sind hier aus der Erde hervorgekommen und geistern umher in dieser trostlosen Landschaft wie Gespenster, die durch die vom Menschen angerichtete tiefgreifende Veränderung der Natur verwirrt sind.
Körper werden Landschaften
Die Analogie zwischen Körper und Landschaft ist ein Paradigma, das man in vielen Mythen über die Entstehung der Welt findet. Die Erschaffung der Welt geschieht durch das Opfer eines Ur-Riesen: Ymir, Purusha oder Pangu.9 Dieser wird zerstückelt und seine verstreuten Körperteile bilden die Grundelemente unseres Kosmos. »Sie nahmen Ymir, brachten ihn in die Mitte des gewaltigen Abgrunds und machten daraus die Erde. Aus seinem Blut schufen sie das Meer und die Seen, aus seinem Fleisch die (feste) Erde und aus seinen Knochen die Berge … Sie nahmen auch seinen Schädel und machten daraus den Himmel.«10
In der griechisch-römischen Mythologie haben die Pflanzen, die Tiere und die Sternbilder ihren Ursprung in der Geschichte der Götter, Nymphen und Helden, die diese Mythologie bevölkern. Daphne wird in einen Lorbeerbaum verwandelt, Arachne in eine Spinne und Acteon in einen Hirsch.11 Diese Metamorphosen beschwören eine mysteriöse, bewohnte Welt herauf, die voller Geschichten ist, und in der die verschiedenen Welten miteinander verflochten sind. Wer eines Tages Mensch wurde, war oder wird eine Blume, eine Ameise, ein Baum oder ein Stern.12
Als begeisterter und aufmerksamer Beobachter der Natur war Jean-Pierre Velly diese Durchlässigkeit der Dinge besonders bewusst. In zahlreichen Werken sind die Landschaften voller Gesichter, Silhouetten von Gespenstern oder felsigen Körpern, dann wiederum verwandelt sich der menschliche Körper in eine Landschaft.
1970, am Ende seines Aufenthalts in der Villa Medici, entsteht eine Serie von vier Grafiken mit dem Titel Metamorphose I, II, III, und IV. Drei davon (I, II und IV) stellen einen weiblichen Körper dar, dessen oberer Teil zersplittert ist. Unzählige Einzelteile werden aus dieser körperlichen Hülle herausgeschleudert: Organe, menschliche Figuren, Pflanzen und auch zahlreiche unbestimmte Gegenstände und Formen. In Metamorphose I hat ein Baum auf der Spitze dieser Explosion Wurzeln geschlagen. Wie das Opfer des Riesen, in dem diese zerstückelten Leichen ihren Ursprung haben, verläuft das Leben in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen. Leben und Tod vereinen sich in einer fortwährenden Metamorphose. Dadurch dass der Körper als Ganzes, seine Einheit, zerborsten ist, wurde der leblose Körper dieser Frauen, der an eine zerfetzte Gliederpuppe erinnert, zur Landschaft. Rosa in der Sonne, zwei Jahre zuvor entstanden, ist eine Komposition mit einem Spiegel-Effekt. Rosa, Vellys Ehefrau, Malerin, aber auch sein Modell, liegt auf einer Ebene, deren Tiefe durch das blendende Sonnenlicht aufgehoben ist. Sie ordnet ihre Frisur und wendet ihren Kopf der Landschaft im Hintergrund zu. Ihr nackter Körper mit den mächtigen Schenkeln, dem runden Bauch und den kleinen Brüsten erinnert an liegende Venus-Figuren des Manierismus. Mit seiner dichten Struktur und einer Fülle von Elementen bildet der obere Teil der Grafik einen starken Kontrast dazu; aus einem riesigen, auf geometrische Formen reduzierten, bloßgelegten und überall offenen weiblichen Körper quellen Eingeweide, Seile und Rohre. Es ist Rosas Körper im Spiegel, vergrößert und enthäutet; er verschmilzt mit der felsigen Landschaft. Die Rundung der Hüften, die zur Kugel geworden ist, verweist auf die Form der Sonne. Doch die Schönheit dieses Körpers besteht nicht in dem, was man erwartet – in einer konventionellen Schönheit, wie sie die großen Meister zelebrieren. Zerlegt wie eine Leiche in der Anatomie wird er ein faszinierendes Universum, das zu Erkundungen reizt.
Etwa zwölf bedeutende Grafiken aus der Zeit in der Villa Medici (1966–1970) zeigen einen weiblichen Akt (die erste ist Der Schlüssel der Träume, Prix de Rome 1966). Von 1967 an lässt Velly sein Modell die klassische Pose der liegenden Venus übernehmen, die die Maler so fasziniert hat (Tizian, Velázquez, Goya, Manet …), doch nur um sie besser umdeuten zu können. Seine liegenden Frauen werden dann zu Enthäuteten. Die aufgeklappte Haut enthüllt eine obszöne und mechanisierte Anatomie: Rohre, Seile, Organe und Kugeln bilden die innere Maschine jedes Körpers.
1967, fasziniert von Rosas Schwangerschaft, fertigt Velly die Grafiken Mutterschaft I und Mutterschaft II an. Eine liegende Frau ist darin das einzige Thema. Keine Landschaft, kein Gegenstand lenken den Blick ab. Sie stützt sich auf ihren linken Arm und hebt den rechten Arm. Den Kopf nach hinten gebeugt lässt die Figur einen furchtbaren Schmerz erkennen. Ihre teilweise vom Körper gelöste Haut erinnert zuerst an ein Leichentuch. Ihr Leib ist deutlich sichtbar als Kugel, die sich als ein fremdes Element abzeichnet. In Mutterschaft I ist die Kugel mit der Haut durch Stiche verbunden, die einer chirurgischen Naht gleichen. Diese Frau in Wehen und in Todesqual gebiert eine Kugel. Diese Mutterschaft verkörpert symbolisch alle Mutterschaften: Es ist kein menschliches Wesen, das hier geboren wird, sondern eine ganze Welt. Dieser geplagte Körper muss durch Leiden und Tod hindurchgehen, um Leben zu schenken. Velly zeigt hier nicht nur einen Alptraum, sondern darüber hinaus auch, dass Leben und Tod zu einem Zyklus von Metamorphosen und Transformationen gehören: Es ist der zwangsläufige Übergang zur Wiedergeburt. Die Leichentuch-Haut ähnelt damit der Haut, die die Schlange bei ihrer Häutung abstreift.
Das Thema des Bildes Das Massaker an den Unschuldigen (1970–1971) bezieht sich nicht explizit auf die Episode in den Evangelien, es erinnert vielmehr an eine Szene des Jüngsten Gerichts.13 Eine trostlose Landschaft, von einem endzeitlichen Licht erhellt, ist mit winzigen, nackten Menschen bedeckt; zu Tausenden fliehen sie zum Horizont. Der Blick des Grafikers ist gedankenverloren und distanziert. In einem gewissen Abstand betrachtet bilden diese Menschen eine kompakte Masse. Sie sind so zahlreich, dass die Natur unter ihren Körpern vollständig verschwunden ist. Die Szene ist eine wogende Landschaft aus menschlichen Körpern. Dieses rätselhafte Blatt besticht durch die ungewöhnliche Ausführung14 dieser armen, gejagten Menschenmenge, in der jedes Wesen versucht, seine Individualität aufzugeben, an der es so schmerzhaft trägt.15 Denn wenn man näher hinschaut, ist jede Person einzigartig.
Die Beziehung zwischen Körper und Landschaft ist folglich ein zentrales Thema im Werk von Jean-Pierre Velly. Wie wir gesehen haben, zeigt sich die Vermenschlichung, das heißt die Gleichsetzung der Landschaft mit dem ganzen menschlichen Körper oder Teilen davon, in verschiedenen Formen. Der Körper ist die ursprüngliche Maßeinheit, die es ermöglicht, das Universum zu erkennen. Die Landschaft ist voll von Gesichtern, Geistern und verborgenen Körpern; oder aber der Körper selbst, offen, zerborsten und leidend, wird zur Landschaft oder zum Ursprung der Welt. Man entdeckt ein Universum mit einer furchtbar langen Geschichte, Frucht eines schmerzhaften Transformationsprozesses und erfüllt von der Erinnerung seiner früheren oder jetzigen Bewohner.16
Von der Gleichheit der Menschen und der Dinge
Das Massaker an den Unschuldigen lässt sich mit zwei anderen Grafiken in Beziehung setzen, die im selben Jahr entstanden sind: Pflanzen und Zerstörte Stadt. Die erste zeigt eine Landschaft, die sich ins Unendliche ausdehnt, wie in Das Massaker an den Unschuldigen: Beide Grafiken sind übrigens genau gleich groß. Einfache Pflanzen wie Winden, Gräser und Brennnesseln – die man ganz einfallslos als »Un-Kräuter« bezeichnet – haben nicht lange gebraucht, um die Menschen zu ersetzen und bedecken jetzt die gesamte Erde. Auf einer Erde ohne uns nimmt sich die Natur ihr Recht zurück. Auf der zweiten Grafik sieht man eine apokalyptische Szene: eine Stadt, dem Erdboden gleichgemacht und von einer atomaren Explosion ausgelöscht, auf die das beunruhigende Licht des Himmels verweist. Im Vordergrund flüchten einige nackte Menschen vor den rauchenden Trümmern, und ihr Laufen erinnert an die Figuren in Das Massaker an den Unschuldigen. Die vogelperspektivische Sicht in diesen drei Grafiken schafft Distanz und relativiert die Vielzahl der Elemente und Geschehnisse. Die Ähnlichkeit in der Komposition führt zu einer Analogie zwischen Menschen, Pflanzen und zerstörten Bauten. Dieses »Triptychon« gibt eine Vorstellung von Vergänglichkeit: Die Menschen können jederzeit vom Tod hinweggerafft werden und es ist das unausweichliche Los der großen Städte unserer Zeit, aus gelöscht zu werden. Diese tiefgreifende Veränderung des Maßtabs relativiert den Platz des Menschen auf diesem Planeten und in der Geschichte des Universums. Er verliert seinen Status als Mittelpunkt der Schöpfung.17 Von dieser spontanen Betrachtungsweise – denn wir nehmen die Welt erst einmal mit unseren Augen und unserem Körper wahr – kommen wir zu einer »geistigen« und dennoch gefühlten, konkreten Sicht des Universums, in dem der Mensch sich im Unendlichen verliert. Dieses Bild von der Welt und von dem Platz, den der Mensch darin einnimmt, kommt jedoch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sehr nahe.18
»Eppure si muove – Und sie bewegt sich doch … Das soll heißen, dass du früher geglaubt hast, du seiest der Mittelpunkt des Universums auf Erden gewesen, und dass alles sich um dich drehe. Doch du erkennst, dass du es bist, der sich um all die Dinge dreht, dass die ganze Welt sich bewegt, dass es kein eigentliches Zentrum gibt. Dass nichts im Leben festgelegt ist … Sie sind gleich! Die Ratte ist gleich eins und der Mensch ist gleich eins … und die Pflanze ist gleich eins. Das ist alles … Sicher, für unseren kleinen persönlichen Egoismus … Ich will sagen, das ist eins. In dieser Hinsicht gibt es für mich absolut kein Problem.« (19)
So hat sich Velly am 12. November 1982 in seinem Gespräch mit Michel Random geäußert. Diese tiefgreifende Veränderung der Wahrnehmung – die Entdeckung der fundamentalen Gleichheit von allem, was vorhanden ist – macht die Welt in keiner Weise einförmig und farblos, sondern im Gegenteil durchaus faszinierend. Das Insekt, der Mensch, der Sternenhimmel, eine Waschmaschine auf einer Müllkippe: Alles ist von Interesse.
Eine der Besonderheiten im Werk von Jean-Pierre Velly findet sich in jener Serie von Grafiken, die Müllkippen gewidmet sind. Seine Wahrnehmung und die langsame Arbeit des Grafikers haben dazu geführt, dass er sich auf Objekte konzentrierte, die offenbar uninteressant sind und die Schönheit und Würde erst durch ihre Darstellung und den zarten Strich des Stichels bekommen. Wenn jedes Wesen, jeder Gegenstand ein Universum für sich, ein Mikrokosmos ist, dann bedeutet das die Explosion der Möglichkeiten, den Rausch der Fülle, ein wirkliches Bewusstwerden der Komplexität der Welt.
Velly beschäftigt sich mit den einfachen, unscheinbaren Dingen, den Gräsern auf den Feldern, dem Abfall, Dinge, die von jedermann als unnütz angesehen werden; doch für ihn werden sie ein unerschöpfliches Forschungsgebiet; mit einer bedingungslosen Genauigkeit, verbunden mit einer fast besessenen Sorgfalt, stellt er diese Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven dar. Indem er dem unsichtbaren Ariadne-Faden folgt, ist für ihn jeder Gegenstand ein Mikro-Universum, das seine Geschichte erzählt: über seine Entstehung, die Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, seine Benutzer, und seine endgültige Bestimmung, den Müllhaufen, wahrer Friedhof und möglicher Ort der Wiederverwertung. Susanna im Bade (1970) könnte eine grauenhafte Version einer Landschaft von Claude Lorrain sein. Die biblische Szene erscheint in einer begrenzten Ecke des Bildes: Susanne, nackt, will gerade in ein Schwimmbad steigen. Zahlreiche Männer in Badehosen umringen und beobachten sie. Doch das dominierende Element der Grafik ist eine riesige Müllhalde, die von einer Wolke erhellt wird. Das Chaos ist nur scheinbar, die Gegenstände entsprechen einander: Ein Sessel verweist auf einen geflochtenen Stuhl, und dieser wiederum auf eine in der Nähe zurückgelassene Toilettenschüssel. In Endlich (1973) bekommen diese Ansammlungen eine eher kosmische und autobiographische Wendung: Ein Strudel von Gegenständen kreist um einen leuchtenden Stern. Wenn man sich in die Grafik vertieft, entdeckt man – unter anderem – ein Dreirad, ein Schaukelpferd, eine Schultasche, Murmeln, elektrische Eisenbahnen, einen Ball, einen Kreisel, Marionetten, russische Puppen … Es sind Hunderte von Gegenständen aus der Kindheit, die im Weltraum umherfliegen. In der unteren linken Ecke sitzt ein Kind an seinem Schreibpult und schreibt in ein Heft; nicht weit davon entfernt sieht man einen Geburtstagskuchen mit sieben Kerzen: Sie finden eine Entsprechung im realen Leben: Arthur, der Sohn des Künstlers, wird in jenem Jahr sieben Jahre alt.
Ein Punkt, das ist alles (1975–1978) zeigt wieder eine gewaltige Explosion von Gegenständen, Körpern und Körper-Objekten. Wie in Susanna im Bade erzeugt jedes Element ein weiteres, die Grafik ist voll von witzigen visuellen Anspielungen, von Verknüpfungen von Formen und Ideen und von Wortspielen. Das Helikon befindet sich in der Nähe der Rotoren eines Helikopters, welches wiederum nicht weit von der Schraube, einer anderen Spirale, entfernt ist. Eine Konservendose – und es ist nicht irgendeine, denn man kann darauf deutlich lesen »Ölsardinen Velly aus Formello« – wird von einem Schlüssel geöffnet, der seine Entsprechung in einem Türschlüssel findet und dieser seinerseits in einem Schraubenschlüssel. Das Chaos ist wiederum nur scheinbar; es handelt sich in der Tat um eine »geordnete Anhäufung« von Dingen. Diese Mülldeponien sind ein echtes memento mori unserer Zeit. Was wird aus diesen Gegenständen, die ein Leben lang zusammengetragen worden sind, wenn die Person stirbt? Alter Kram. Was für einen Sinn hat dieses unsinnige Horten? Vanitas. Vanitas ist auch das Thema in Sammelt keine Schätze (1975), so der Titel einer Grafik, die die Worte des Evangelisten Matthäus20 übernimmt. Kronen, Tiaras, Säulen, Trophäen, Lorbeerkränze, Medaillen, die Symbole des Erfolgs und der Macht werden von den Fluten verschlungen.
Velly zu Corbière
Von 1972 an arbeitet Jean-Pierre Velly zwar weiter als Grafiker, doch nicht mehr so regelmäßig: Er beginnt wieder zu zeichnen, diesmal mit dem Silberstift, und es entstehen Aquarelle und Ölgemälde. In dieser Zeit fertigt er eine Serie von Silberstiftzeichnungen an: realistische Porträts von Einwohnern des Dorfes Formello, wo er sich kurz davor mit seiner Familie niedergelassen hat. Diese geänderten Techniken gehen einher mit einer recht eindeutigen Thematik. Doch das fantastische Universum beschränkt sich nicht auf die Welt der Grafik. 1978 präsentiert die Galerie Don Chisciotte in der Tat eine Serie in verschiedenen Techniken (Bleistift, Tusche und Aquarell) mit dem Titel Velly zu Corbière als Hommage an den »verfluchten Poeten«. Der Buchdeckel des Katalogs verweist auf die Bedeutung der Farbe; der Schutzumschlag ist ganz in Schwarz gehalten. Jedes Werk wird von einem Gedicht aus dem Band der Gelben Liebschaften begleitet. Velly bewunderte den bretonischen Dichter Tristan Corbière (1845–1875), seinen abgehackten, verworrenen Stil, seine düstere Vorstellungswelt, eher ironisch als romantisch. Die Werke stellen meist liegende Menschen dar, die mit geschlossenen Augen den Kopf zum Himmel wenden. Bei dem größten Teil dieser zwanzig kleinformatigen Zeichnungen hat das Blatt zwei deutlich getrennte Bereiche: Erde und Himmel. Ein vergrabener Sarg birgt einen Leichnam, dessen Kopf vorne liegt; die Figur erinnert an Die Beweinung Christi von Mantegna21, sie ist jedoch umgedreht. Aus der Brust der Figuren kommen farbige Strahlen hervor, die einen Regenbogen bilden. Diese verbinden sich dann mit den Sternen zu Sternbildern. Der Makrokosmos (das Universum, von den Sternbildern dargestellt) und der Mikrokosmos (der menschliche Körper) treten in Verbindung, vereinigen sich und bevölkern sich gegenseitig in einem unendlichen Zyklus. Es gibt keine Abgrenzung mehr zwischen den Elementen, und diese Eigenschaften unterstreichen die Metamorphose, die Verwandlung, die der Tod herbeiführt. Der Tod ist ein Übergang, und der Geist sowie der Körper erneuern sich in anderer Form. Die Frage, welchen Platz der Mensch im Universum einnimmt, bleibt bestehen: Würde sich im Tod das Geheimnis des Lebens offenbaren? Die Titel der Werke geben Anlass, in diese Richtung zu denken: Geheimnis; Sterne; Die Unbekannte; Traum; Licht; Nachtstück; Die Unsterblichen; Ein Beinahe Regenbogen; Abwesenheit; Nichts; Auflösung …
Das verlorene Bestiarium
1980 präsentiert die Galerie Don Chisciotte der Öffentlichkeit wieder eine Serie in unterschiedlichen Techniken mit dem Titel Verlorenes Bestiarium (22): Es sind Tuschzeichnungen und Aquarelle zum Thema Tier. Der Mensch – »das bedeutendste Tier glänzt hier durch seine Abwesenheit.«23 Man sieht, dass die Themen ganz andere sind, es handelt sich jedoch um dieselbe Botschaft, die, in eine andere Sprache übersetzt, eine Metamorphose erfährt. Das Verlorene Bestiarium zeigt, nach Art der mittelalterlichen Bestiarien, in Aquarellen jeweils das Porträt eines Tieres. Im Katalog ist jedem Werk ein kurzer »Text« gegenübergestellt, den der Künstler geschrieben hat. An die Stelle des Löwen, des Walfisches und des Einhorns aus den alten Büchern sind Tiere getreten, vor denen sich der Mensch fürchtet, die er verabscheut und verachtet: Auf den Seiten eines Büchleins, das aussieht wie ein Schulheft, sieht man Ratten, Fledermäuse, Eulen, Frösche, Schaben, Käfer.24 Mit unendlicher Zärtlichkeit zeichnet Velly diese Porträts von Tieren, die aus dem einen oder anderen Grund in Ungnade gefallen sind und zu Märtyrern werden, von den Menschen gemartert: eine lebend an Türen genagelte Schleiereule25, eine sterbende Ratte, ein Blatthornkäfer, der vom Insektenforscher aufgespießt wurde. Er prangert die menschliche Grausamkeit an, der diese Tiere aufgrund von Aberglauben oder Egoismus ausgesetzt sind. Doch darüber hinaus verurteilt er das Leiden der Unbedeutenden. Der OpferAspekt ist offensichtlich, und bei der festgenagelten Schleiereule denkt man sofort an die Kreuzigung Christi. Das Gedicht, das zum Porträt der Ratte zitiert wird, lautet: »Vergesst meine Schneidezähne, vergesst mein rotbraunes Fell, vergesst meinen schwarzen Tod, vergesst! Wie ihr hatte ich nur Hunger und ein Recht zu leben.« Velly erinnert uns daran, dass »sie gleich sind! Die Ratte ist gleich eins und der Mensch ist gleich eins.«26 Diese Ratte erinnert an alle, deren Schicksal uns gleichgültig ist. Durch die Umkehrung des Maßstabs und durch Beobachtung entstehen Mitgefühl und Mitleid.
Nach dem Verlorenen Bestiarium fertigt Velly nur noch fünf Grafiken an.27 Er hat sich bewusst für das Aquarell, die Zeichnung und die Ölmalerei entschieden. Es entsteht eine bedeutende Serie von Stillleben zum Thema »Vase mit Blumen«, auch mit Blumensträußen auf einem Fenstersims; den Hintergrund bedeckt eine Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass die meisten Sträuße nicht aus edlen Blumen bestehen, sondern aus Wiesenblumen und aus wildwachsenden Pflanzen vom Straßenrand (Pirouette, 1983, Mattino 1984); die »Vase« ist meist ein ziemlich gewöhnliches Glas. Doch wie im Verlorenen Bestiarium würdigt Velly die in Verruf geratenen Arten, die aus der Nähe betrachtet jedoch den Orchideen und Tulpen in nichts nachstehen. In einer eindrucksvollen Perspektive lässt Velly die Pflanzen im Vordergrund direkt vor dem gewaltigen Hintergrund einer von Wolken erleuchteten Landschaft erscheinen. In diesen Kompositionen liegen Nähe und Ferne ganz dicht beieinander, das äußerst Unbedeutende grenzt an die Erhabenheit der Landschaft im Dämmerlicht oder des stürmischen Meeres. In Dezember, eines der zwölf Aquarelle, die er für den Olivetti-Kalender des Jahres 1986 anfertigt28, sind Zweige und Wurzeln auf einem Strand gelandet, und die Samen sind über den ganzen Sand verstreut. Es ist stockdunkel, und der Mond dringt nur schwach durch einen Wolkenschleier. Der Rest des Himmels ist übersät mit Sternen. Was oben ist, ist unten, und was unten ist, ist oben. Durch diese Verwandlung à la Baudelaire29 adelt Velly die Dinge und macht das sichtbar, was unbeachtet bleibt. Und das wäre nicht möglich, wenn man nicht die Gleichheit aller Dinge voraussetzen würde.
Die Komplexität der Grafiken, die Vielzahl der dargestellten Elemente und die verborgenen Bilder regen dazu an, die Werke von Jean-Pierre Velly zu »lesen«, anstatt sie zu »betrachten«. Diese Arbeit der Entschlüsselung wiederholt die Langsamkeit und die Überlegungen, mit denen jeder Strich des Stichels in das Kupfer eingeritzt wurde, jede Linie in den Aquarellen nach und nach die Sonnenstrahlen gebildet hat. Man könnte sagen, dass Velly genau so malte wie er gestochen hat, indem er mit großer Geduld die Striche zusammengefügt hat. Sein Werk widmet sich bewusst der Meditation und ist weit entfernt von dem Getöse und dem wilden Gehabe seiner Zeitgenossen. Velly betrachtete seinen Beruf als eine heilige Mission, als ein weltliches Priesteramt. Sein Werk übermittelt keine ästhetischen oder moralischen Ansichten, sondern vielmehr eine philosophische Fragestellung. Als Künstler übersetzt er die Tiefe seines Gefühls in Form von Bildern, »sonst wäre ich Schriftsteller oder Dichter geworden«, behauptet er. Doch über die bildliche Wiedergabe einer inneren Wahrheit hinaus möchte Velly mit seinem Betrachter in einen Dialog treten: »Denn wenn man sich über seine Kupferplatte beugt, sitzt man nicht da, um kleine Boote oder kleine Blumen entstehen zu lassen. Man sitzt da, um sich erst einmal selbst zu verstehen und dann durch sich die anderen zu begreifen. Denn du existierst nur durch die anderen … (Es geht darum) deine eigene Sprache zu schaffen, um dich besser zu verstehen … (Dann) gibt es andere, die vorbeikommen und sagen werden: ›Oh, da erkenne ich mich wieder …‹«
Hoffen wir, dass der Wunsch des Künstlers anlässlich dieser Ausstellung in Erfüllung geht.
1 Es gibt eine Periode aus der Jugendzeit des Künstlers, die noch wenig bekannt ist und hauptsächlich Ölgemälde und Zeichnungen umfasst.
2 Man kann dieses Gespräch lesen oder hören unter: www.velly.org/Conversation_12_novembre_1982.html
3 Das Blatt ist verschollen
4 In einem Bild kann ein anderes verborgen sein, hrsg. unter der Leitung von Jean-Hubert Martin, RMN, 2009, S. XVII
5 Anatole Le Braz, Die Legende vom Tod, 1982, Edition Jeanne Laffitte
6 Entstanden zwischen 1497 und 1502. Dieses Bild befindet sich heute im Louvre.
7 In einem Bild kann ein anderes verborgen sein, hrsg. unter der Leitung von Jean-Hubert Martin, Paris, RMN, 2009
8 Ohne Lärm
9 Mircea Eliade, Mythen, Träume und Geheimnisse, Paris, Gallimard, 1957, S. 225–226
10 Zitiert von Jeanette Zwingenberger in: Geschichte der menschenähnlichen Landschaft. Der Körper, Geographie der Welt. In: Der Mensch als Landschaft, Paris, Somogy, 2006, S. 53
11 Ovid, Metamorphosen, Übersetzung von Georges Lafaye, Paris, Gallimard, 1992. Daphne (1. Buch, Vers 452–583), Arachne (VI. Buch, Vers 1–145) und Acteon (Buch III, Vers 134–255).
12 »Und dann scheint es als habe man Zellen, die Tausende von Jahren alt sind. Man ist also Ratte gewesen, man ist ein Blatt gewesen … Ich spreche hier nicht von einer Seelenwanderung mit Wiederbegegnungen der Persönlichkeit, ich meine aber eine Art früheres Wissen, das sicher wahr ist.« Velly im Gespräch mit M. Random, 1982. Vgl. Anm. 2
13 Zum Beispiel Jüngstes Gericht von Caron und Cousin, entstanden um 1585, im Besitz des Louvre.
14 Ganz sicher ein »Unikum« in der Geschichte der Kunst, denn diese Grafik umfasst auf 30 mal 40 Zentimetern fast 3000 Figuren.
15 Vgl. das Gespräch mit Michel Random während der Dreharbeiten zum Film Die visionäre Kunst, 1975
16 Die Grafik Trinità dei Monti (1968) könnte auch eine verschlüsselte Anspielung auf die Analogie Körper-Landschaft sein. Rosa, liegend, frisiert sich in einem Spiegel. Man sieht ihr Spiegelbild, aber auch einen großen Teil der Stadt Rom, wie eine Grafik in der Grafik. Ihr wiedergespiegelter Körper wird durch eine Felsenküste, die die Formen ihrer Schenkel und ihres Bauchs aufnimmt, nach rechts verlängert. Auf der linken Seite erkennt man die Kirche Trinità dei Monti. Dieses französische Kloster liegt nicht weit von der Villa Medici entfernt und zeigt auf einer Mauer des Kreuzgangs ein graues Fresko von Maignan aus dem Jahre 1642. Dieses Fresko ist eine zwanzig Meter lange kartographische Landschaft, die die Meerenge von Messina darstellt. Doch in der Bucht, dem Hafen, den abrupten Felswänden verbirgt sich das verzerrte Porträt des Heiligen Franz von Paola, einem heiligen Eremiten, der dort gelebt hat. Als Stipendiat der Villa Medici hat Velly dieses Fresko bestimmt gekannt. In dieser unerwarteten Umdeutung ist Rosa mit dem Stadtbild Roms assoziiert, so wie der Heilige Franz von Paola die Meerenge von Messina ist.
17 »Man hat immer geglaubt, dass der Mensch der Herr der Welt sei … Ich persönlich glaube nicht daran. Diese Vergötterung des Menschen, diese Überlegenheit des Menschen über die Natur, die Gegenstände, die Dinge bleibt mir im Halse stecken. Denn ich empfinde sie als zutiefst ungerecht. Das ist zu einfach! … einfach so hergehen und sagen: Wir sind die Stärksten, wir sind der herausragende Geist … unsere Kultur ist führend … Nein, in dieser Art von Natur möchte ich den Menschen gern als ein Insekt sehen … Nicht um den Menschen herabzuwürdigen, sondern vielleicht um das Insekt, die Pflanze … den Kieselstein, warum nicht?, aufzuwerten.« Gespräch mit Michel Random während der Dreharbeiten zum Film Die visionäre Kunst, 1975
18 Vgl. Gute Nachricht von den Sternen von Jean-Pierre Luminet und Elisa Brune, 2009, Edition Odile Jacob
19 Vgl. Anm. 2
20 Matthäusevangelium, VI, 19
21 Im Besitz der Pinakothek von Brera, Mailand
22 www.velly.org/Bestiaire_perdu.html
23 Aussage des Künstlers im Gespräch bei Radio Ipsa, 1980
24 Ausgetrocknete Tiere wie diese bevölkerten das Atelier des Künstlers.
25 Eine alte bretonische Praxis, um Unglück abzuwenden.
26 Gespräch mit Michel Random, 1982
27 Beim letzten Atemzug der sterbenden Ratte unter dem Sternenhimmel; Baum; Wiesenblumen; Winterblumen und Der Schatten, das Licht
28 Unter dem Titel Winterblumen nimmt Velly 1980 das Motiv von Dezember als Grafik in Schwarz wieder auf.
29 »Du hast mir deinen Dreck gegeben, und ich habe daraus Gold gemacht«, Entwurf eines Nachworts zur Ausgabe von 1861 von Die Blumen des Bösen, Charles Baudelaire, in: Baudelaire, Gesamtausgabe, Bibliothèque de la Pléiade, Paris, Gallimard, 1975. S. 192. In frühen Jahren hat Velly ein Gedicht aus den Blumen des Bösen illustriert: Ein Aas.