Gerd Lindner
Dualismus der Empfindsamkeit
Katalog Panorama, 2009
Die Kunstgeschichte ist Spiegel ihrer Zeit und vollzieht sich doch nach Gesetzen, die ihrer allgemein üblichen Darstellung nur bedingt entsprechen. Das gilt umso mehr, wenn man das Lebenswerk eines Künstlers betrachtet, der die Grenzen seiner Zeit weit überschritten hat, folglich also in keinerlei vorgefasstes Schema passt. Dabei sind es gerade die besonderen Einzelfälle und Individualisten, die der Kunst ihr Antlitz geben und deren Geschichte letztlich schreiben. Erinnert sei nur an den Fall Grünewald. Einer der zeitgenössischen Meister, für den dies ohne Zweifel genauso gilt, ist der Bretone Jean-Pierre Velly, geboren 1943 in Audierne am Atlantik, 1990 ertrunken im Kratersee von Bracciano in den Sabatiner Bergen nordwestlich von Rom.
Erstmals in Deutschland wird nun im Panorama Museum von Bad Frankenhausen mit mehr als 160 Kupferstichen und Radierungen, Mischtechniken, Zeichnungen, Aquarellen und auch Ölgemälden eine umfassende Werkschau des Künstlers aus insgesamt 25 Schaffensjahren präsentiert. Nach der 1993 von der Académie de France in Rom veranstalteten Ausstellung ist diese Retrospektive mit dem vorliegenden Katalogbuch zugleich die bisher umfangreichste Manifestation seines Werkes überhaupt. Nur rund dreihundert unikale Arbeiten und knapp einhundert grafische Blätter sind von ihm bekannt. Mehr hat er nicht hinterlassen, ein überaus rares, aber auch intensives, beeindruckendes und überzeugendes Werk, dessen Aufarbeitung lange noch nicht abgeschlossen ist und dessen angemessene Würdigung im Blick auf seinen kunstgeschichtlichen Stellenwert noch aussteht.
Jean-Pierre Velly, der mit nur 46 Jahren 1990 in seiner Wahlheimat Italien auf so tragische wie mysteriöse Weise ums Leben kam, ist gleichwohl bereits jetzt als einer der bedeutendsten Visionäre in der Kunst des 20. Jahrhunderts anzusehen. Er war nicht nur ein eminenter Grafiker, sondern auch Zeichner, der in seinem altmeisterlich beherrschten Können, seiner Formauffassung, bildnerischen Virtuosität und Wahrhaftigkeit unmittelbar an die ganz großen der Vergangenheit, speziell der Renaissance und des Manierismus, anschließt. Dürers Schaffen war ihm sicher ebenso vertraut wie die Hochleistungen der italienischen und französischen Schule oder die Grafik jener Zeit. Seine überaus einfühlsamen Stillleben und Landschaften, die sichtlich von bedrängender Melancholie und Transzendenz durchdrungen sind, offenbaren wiederum deutliche Bezüge zur nordischen Romantik eines Caspar David Friedrich, wobei selbst in sehr malerisch scheinenden Blättern der grafische Duktus dichter Kreuzschraffuren oftmals die Herkunft des Meisters vom Kupferstich nicht verschweigen kann. Die Lichträume eines Turner oder Lorrain sind vorgetragen mit der Präzision eines Peintre-graveurs, der den Stichel und die Radiernadel perfekt zu handhaben weiß. Doch bei aller Rückbesinnung auf die »Alten« schuf Velly ein sehr zeitgemäßes, ja modernes Œuvre, das Elemente einer ganz eigenen subjektiv-existentialistischen Seinsauffassung bruchlos mit der gesteigerten Empfindsamkeit einer unmittelbaren Naturanschauung verbindet, die sich zu komplexen Sinnbildern des Seins verdichtet wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Realität und Traumwelt, Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit bestimmen die Pole, zwischen denen sich das Werk des Künstlers in seiner Determination zum Tod hin entfaltet.
Das Werk von Jean-Pierre Velly ist dabei von entschieden dualistischer Struktur und darin unmittelbar der Romantik verwandt. Das Sichtbare, der Realität verhaftete, verweist auf ein Jenseitiges, das das Numinose ebenso einschließt wie das Erlebnis der eigenen Innerlichkeit. Mikrokosmos und Makrokosmos, Inneres und Äußeres, Ich und Welt, Sein und Zeit bezeichnen den Spannungsbogen, der die Kunst Vellys durchwaltet. Das Geistige dieser Kunst, ihr metaphysischer Gehalt ist das Resultat einer fundamentalen Sublimierung von Wirklichkeit, die das Subjektive des Ansatzes ins Archetypische verallgemeinert und objektiviert. Dahinter steht eine zutiefst philosophische Weltauffassung, die in vollendet visionären Bildern Gestalt gewinnt und dem Künstler wie dem Betrachter eine Ahnung von der ursprünglichen Einheit von Natur und Mensch, 7 7 von Sein und Geist vermittelt, deren Verlust schmerzlich ins Bewusstsein tritt. Melancholie und Transzendierung des Sichtbaren sind zwei der bestimmenden Wesensmerkmale dieser Kunst, die ein Weltbild beschreibt, das überaus sinnlich, verletzbar und emotional, das existentiell erfahren, aber auch in höchstem Grade geistig ist. »Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da entsteht Mystik«, hat schon Friedrich Nietzsche gewusst. Dabei scheint dem Künstler auch der Gedanke der Wiederkehr nicht fremd. Das bezeugt nicht zuletzt Vellys wundervolle Parabel »Wenn der Junge den Berg sieht«, die gleichfalls sinnbildhaft-dualistisch angelegt ist. Im Kern geht es um die Totalität eines Mikrokosmos im Zentrum des Makrokosmos, um die Idealform einer Kugel (dem vollendeten Symbol des ganzen Universums), die als mühevolle Lebensaufgabe mit höchster Kunstfertigkeit und unter Anspannung aller Kräfte der Natur abgerungen werden muss. Erst einer verständigen späteren Generation ist vorbehalten, die verlorene Ganzheit aus der Erkenntnis der grundlegenden Kohärenz von Artefakt und Realität mit gleicher Kraft neu zu rekonstruieren und in ihrer ursprünglichen Einheit und Größe wiederherzustellen. Was für eine Klarheit und Präg nanz in der Deutung der Metapher! Vellys »poetisches Testament« (Pierre Higonnet) ist einer der wesentlichen Schlüssel zu einem tieferen Verständnis seines gesamten Schaffens. Zugleich wird man nicht zufällig auch an Dürers berühmte Sentenz in seinem Großen ästhetischen Exkurs erinnert: »Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie …«
Lediglich rund 30 Schaffensjahre waren dem Künstler ver gönnt. Gleichwohl tritt er in der Retrospektive nahezu voraussetzungslos als reife Persönlichkeit von singulärer Bedeutung ans Licht. Trotz der Begrenztheit des Œuvres lassen sich dabei mehrere relativ klar erkennbare Schaffensphasen ausmachen, die sich aus seiner zyklischen Arbeitsweise ergeben und diese zugleich begründen. Die Anfänge bis zu den frühen Siebzigern zeigen ihn zunächst als begnadeten Meisterstecher und Radierer, der mit dem Blatt Der Schlüssel der Träume (1966) nicht nur den begehrten Rom-Preis gewann, sondern unvermittelt in die Spitze der zeitgenössischen Grafik-Kunst stieß. Die zarten Silberstiftzeichnungen der Jahre 1972/73 wirken dazu fast wie eine ästhetische Antithese, die ihren Sinn und ihre Vollendung in der Studie findet.
Seit Mitte der siebziger Jahre zählte Velly zum engeren Kreis der visionären Grafiker und Maler von Paris, der sich um den Publizisten, Filmautor, Fotografen und Theoretiker Michel Random gebildet hatte, auch wenn der Künstler nach seinem Rom-Stipendium in Italien geblieben war und mit seiner Frau, Rosa Estadella, in Formello nahe Rom im Latium lebte. Random sprach im Falle von Jean-Pierre Velly nachdrücklich von »einem gänzlich visionären Gesamtwerk«1, das er von jeder bloßen Fantastik abgrenzte. Eindrucksvoll belegt wird dies durch die zwei wichtigen Zyklen der zweiten Hälfte der Siebziger, Rondels für danach (1976–79) und Verlorenes Bestiarium (1978–80). Der visionäre Charakter, der diesen Zyklen zu eigen ist und ihnen die Symbolik des Immanenten der Vergänglichkeit wie der Wiederkehr und des Strebens nach verlorener Ganzheit verleiht, eine Bedeutung, die auf Gleichheit allen Seins, Tod und Ewigkeit gründet, kommt ebenso in den wundervollen Aquarellblättern der Achtziger zur Geltung, wenn auch nicht vordergründig und verschlüsselt, sondern primär über die Evokation der Naturform, über Licht, Raum, Farbe und sinnlich-anschauliches Detail. Ein gutes Beispiel gibt hier der Zyklus der Monatsbilder (1984/85) oder das Gemälde Danach (1985), das ganz romantischer Stimmung zwischen Verzweiflung und Zuversicht verpflichtet ist und überleitet zu malerischen Hauptwerken wie das magische Bukranion (1986) und Die grosse Stunde (1989), die allein schon die herausragende Stellung Vellys im Kontext der zeitgenössischen Romantik begründen würde. Baumstudien und grandiose Sonnenuntergänge vermitteln ein geradezu pantheistisches Empfinden von den Wundern der Natur, die ebenso wie die überaus einfühlsamen Bildnisse (darunter ganz ergreifende Selbstporträts) und Aktstudien ein in seiner Sensibilität wie Eindringlichkeit nicht mehr zu steigerndes Bild von der Welt und dem Menschen geben, der sich auf seiner Wanderung zwischen den Welten seiner Unvollkommenheit wie der Größe der Schöpfung, aber auch der Unausweichlichkeit des eigenen Schicksals auf das schmerzlichste bewusst geworden ist. Auf einer Zeichnung des Jahres 1989, die seinen Freund Giuliano de Marsanich zeigt, der lebenslang sein wichtigster Händler und auch treuer Mäzen gewesen ist, schrieb er vielsagend das Bekenntnis: »Meine Grenzen sind unermesslich.«
1 Michel Random: Vom Phantastischen zum Visionären. In: Du Fantastique au Visionnaire. La Pittura e la Scultura Fantastica e Visionaria. Edizioni Bora, Bologna 1994, Seite 25
Jean-Pierre Velly – Zwischen den Welten
Gerd Lindner - 31 Oktober 2009
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Kunstgeschichte ist Spiegel ihrer Zeit und vollzieht sich doch nach Gesetzen, die ihrer allgemein üblichen Darstellung nur bedingt entsprechen. Das gilt umso mehr, wenn man das Lebenswerk eines Künstlers betrachtet, der die Grenzen seiner Zeit weit überschritten hat, folglich also in keinerlei vorgefasstes Schema passt. Dabei sind es gerade die besonderen Einzelfälle und Individualisten, die der Kunst ihr Antlitz geben und deren Geschichte letztlich schreiben. Erinnert sei nur an den Fall Grünewald. Einer der zeitgenössischen Meister, für den dies ohne Zweifel genauso gilt, ist der Bretone Jean-Pierre Velly, geboren 1943 in Audierne am Atlantik, 1990 ertrunken im Kratersee von Bracciano nordwestlich von Rom.
Erstmals in Deutschland wird mit mehr als 160 Kupferstichen und Radierungen, Mischtechniken, Zeichnungen, Aquarellen und auch Ölgemälden hier bei uns nun eine umfassende Werkschau dieses Künstlers präsentiert. Nach der 1993 von der Académie de France in Rom veranstalteten Ausstellung ist diese Retrospektive mit dem dazugehörigen Katalog zugleich die bisher umfangreichste Manifestation seines Werkes überhaupt. Nur rund 300 unikale Arbeiten und knapp 100 grafische Blätter sind von ihm bekannt. Mehr hat er nicht hinterlassen (nach heutigem Erkenntnisstand), ein überaus rares, aber auch intensives, beeindruckendes und überzeugendes Werk, dessen Aufarbeitung lange noch nicht beendet ist und dessen angemessene Würdigung im Blick auf seinen wahren kunstgeschichtlichen Stellenwert noch aussteht.
Jean-Pierre Velly, der mit nur 46 Jahren 1990 in seiner Wahlheimat Italien auf so tragische wie mysteriöse Weise ums Leben kam, gilt ungeachtet dessen längst als einer der bedeutendsten Visionäre in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur ein eminenter Grafiker, sondern auch Zeichner, der in seinem altmeisterlich beherrschten Können, seiner Formauffassung, bildnerischen Virtuosität und Wahrhaftigkeit direkt an die ganz großen der Vergangenheit, speziell der Renaissance und des Manierismus, anschließt. Dürers Schaffen war ihm sicher ebenso vertraut wie die Hochleistungen der italienischen und französischen Schule oder die Grafik jener Zeit. Seine überaus einfühlsamen Stillleben und Landschaften, die sichtlich von bedrängender Melancholie und Transzendenz durchdrungen sind, offenbaren wiederum deutliche Bezüge zur nordischen Romantik eines Caspar David Friedrich, wobei selbst in sehr malerisch scheinenden Blättern der grafische Duktus dichter Kreuzschraffuren die Herkunft des Meisters vom Kupferstich nicht verschweigen kann. Die Lichträume eines Turner oder Lorrain sind vorgetragen mit der Präzision eines Peintre-graveur, der den Stichel und die Radiernadel perfekt zu handhaben weiß. Doch bei aller Rückbesinnung auf die Alten schuf Velly ein sehr zeitgemäßes, ja modernes Œuvre, das Elemente einer ganz eigenen subjektiv-existentialistischen Seinsauffassung bruchlos mit der gesteigerten Empfindsamkeit einer unmittelbaren Naturanschauung verbindet, die sich zu komplexen Sinnbildern des Seins verdichtet wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Realität und Traumwelt, Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit bestimmen die Pole, zwischen denen sich das Werk des Künstlers in seiner Determination zum Tod hin entfaltet.
Das Werk von Jean-Pierre Velly ist mithin von entschieden dualistischer Struktur und darin unmittelbar der Romantik verwandt. Das Sichtbare, der Realität verhaftete, verweist auf ein Jenseitiges, das das Numinose ebenso einschließt wie das Erlebnis der eigenen Innerlichkeit. Mikrokosmos und Makrokosmos, Inneres und Äußeres, Ich und Welt, Sein und Zeit bezeichnen den Spannungsbogen, der die Kunst Vellys durchwaltet. Das Geistige dieser Kunst, ihr metaphysischer Gehalt ist das Resultat einer fundamentalen Sublimierung von Wirklichkeit, die das Subjektive des Ansatzes ins Archetypische verallgemeinert und objektiviert. Dahinter steht eine zutiefst philosophische Weltauffassung, die in vollendet visionären Bildern Gestalt gewinnt und eine Ahnung von der ursprünglichen Einheit von Natur und Mensch, von Sein und Geist vermittelt, deren Verlust schmerzlich ins Bewusstsein tritt. Melancholie und Transzendierung des Sichtbaren sind zwei der bestimmenden Wesensmerkmale dieser Kunst, die ein Weltbild beschreibt, das überaus sinnlich, verletzbar und emotional, das existentiell erfahren, aber auch in höchstem Grade geistig ist. „Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da entsteht Mystik“, hat schon Friedrich Nietzsche gewusst. Dabei scheint dem Künstler auch der Gedanke der Wiederkehr nicht fremd. Das bezeugt nicht zuletzt Vellys wundervolle Parabel „Wenn der Junge den Berg sieht“, die gleichfalls sinnbildhaft-dualistisch angelegt und im Katalog nachzulesen ist. Im Kern geht es um die Totalität eines Mikrokosmos im Zentrum des Makrokosmos, um die Idealform einer Kugel (dem vollendeten Symbol des ganzen Universums), die als mühevolle Lebensaufgabe mit höchster Kunstfertigkeit und unter Anspannung aller Kräfte der Natur abgerungen werden muss. Erst einer verständigen späteren Generation ist vorbehalten, die verlorene Ganzheit aus der Erkenntnis der grundlegenden Kohärenz von Artefakt und Realität mit gleicher Kraft neu zu rekonstruieren und in ihrer ursprünglichen Einheit und Größe wiederherzustellen. Was für eine Klarheit und Prägnanz in der Deutung der Metapher! Vellys „poetisches Testament“ (wie Pierre Higonnet es nennt) ist einer der wesentlichen Schlüssel zu einem tieferen Verständnis seines gesamten Schaffens. Zugleich wird man nicht zufällig auch an Dürers bekannten Spruch in seinem Großen ästhetischen Exkurs erinnert: „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie …“
Nur rund 30 Schaffensjahre waren dem Künstler letztlich vergönnt. Dabei tritt er in der Retrospektive nahezu voraussetzungslos als reife Persönlichkeit von singulärer Bedeutung ans Licht. Trotz der Begrenztheit des Œuvres lassen sich dabei mehrere relativ klar erkennbare Schaffensphasen ausmachen, die sich aus seiner zyklischen Arbeitsweise ergeben und diese zugleich begründen. Die Anfänge bis zu den frühen Siebzigern zeigen ihn zunächst als begnadeten Meisterstecher und Radierer, der mit dem Blatt Der Schlüssel der Träume (1966) nicht nur den begehrten Rom-Preis gewann, sondern unvermittelt in die Spitze der zeitgenössischen Grafik-Kunst stieß. Die zarten Silberstiftzeichnungen der Jahre 1972/73 wirken dazu fast wie eine ästhetische Antithese, die ihren Sinn und ihre Vollendung in der Studie findet.
Seit Mitte der 70er Jahre zählte Velly zum engeren Kreis der visionären Grafiker und Maler von Paris, der sich um den Publizisten, Filmautor, Fotografen und Theoretiker Michel Random gebildet hatte, auch wenn der Künstler nach seinem mehr als 3-jährigen Rom-Stipendium mit seiner Frau, Rosa Estadella, in Italien geblieben war. Random sprach im Falle von Jean-Pierre Velly nachdrücklich von „einem gänzlich visionären Gesamtwerk“, das er von jeder bloßen Fantastik abgrenzte. Beispielhaft belegt wird dies u. a. durch zwei Zyklen der 2. Hälfte der 70er, Rondels für danach (1976–79) und Verlorenes Bestiarium (1978–80).
Der visionäre Charakter, der diesen Zyklen eigen ist und ihnen die Symbolik des Immanenten der Vergänglichkeit wie der Wiederkehr und des Strebens nach verlorener Ganzheit verleiht, eine Bedeutung, die auf Gleichheit allen Seins, Tod und Ewigkeit gründet, kommt ebenso in den wundervollen Aquarellblättern der 80er zur Geltung, wenn auch weniger vordergründig und verschlüsselt, sondern mehr über die Evokation der Naturform, über Licht, Raum, Farbe und sinnlich-anschauliches Detail. Ein gutes Beispiel gibt hier der Zyklus der Monatsbilder (1984/85) oder das Gemälde Danach (1985), das ganz romantischer Stimmung zwischen Verzweiflung und Zuversicht verpflichtet ist und überleitet zu malerischen Hauptwerken wie das magische Bukranion (1986) und Die grosse Stunde (1989) –Bilder, die allein schon die herausragende Stellung Vellys im Kontext der zeitgenössischen Romantik begründen würden. Baumstudien und grandiose Sonnenuntergänge vermitteln ein geradezu pantheistisches Empfinden von den Wundern der Natur, die ebenso wie die überaus einfühlsamen Bildnisse (darunter ganz ergreifende Selbstporträts) und Aktstudien ein in seiner Sensibilität wie Eindringlichkeit nicht mehr zu steigerndes Bild von der Welt und dem Menschen geben, der sich auf seiner Wanderung zwischen den Welten seiner Unvollkommenheit wie der Größe der Schöpfung, aber auch der Unausweichlichkeit des eigenen Schicksals auf das schmerzlichste bewusst geworden ist. Auf einer Zeichnung des Jahres 1989, die seinen Freund Giuliano de Marsanich zeigt, der lebenslang sein wichtigster Händler und auch treuer Mäzen gewesen ist, schrieb er vielsagend das Bekenntnis: „Meine Grenzen sind unermesslich.“
Dass eine so umfangreiche Gesamtschau des Werkes von Jean-Pierre Velly Wirk-lichkeit geworden ist, gleicht der Erfüllung eines Traums. Ich will Ihnen auch sagen warum. So verdanke ich meine erste Begegnung mit dem Werk Vellys dem Slowaken Albín Brunovský – bzw. (um genau zu sein) meiner Unkenntnis seiner Sprache. Es muss Ende 1994 (vor ziemlich genau 15 Jahren also) gewesen sein, als ich mit Rudolf Kober bei Brunovský in Bratislava war, um seine Ausstellung bei uns vorzubereiten. Während des Gespräches zwischen Prof. Kober und Prof. Brunovský, das in Tschechisch und Slowakisch geführt wurde, blätterte ich in einem Buch, das Brunovský mir zur Überbrückung der Zeit gegeben hatte, damit ich mich nicht so langweilte, denn ich verstand kein Wort von dem, was die beiden miteinander besprachen. Das Buch war in Französisch, hieß „L’Art Visionnaire“, war 1991 erschienen und geschrieben von einem gewissen Michel Random. Random hatte es Velly gewidmet, der kurz zuvor gestorben war. Speziell auf die Franzosen hat mich Brunovský damals verwiesen, auf Mohlitz, und auf Velly, der mir damals schon, in diesem Buch, besonders ins Auge gefallen ist.
Später bin ich sozusagen in den Kreisen der visionär-fantastischen Kunst Velly immer näher gerückt. Praktisch alle maßgeblichen Fachleute in Sachen Velly habe ich über die Jahre kennengelernt: auch Michel Random, den Autor des Buches, Giorgio Soavi, und Michèle Broutta, Vellys französische Galeristin. Im Mai 2008 war ich mit Frau Dr. Fabrizio schließlich auch bei Giuliano De Marsanich in Rom, in seiner Galerie nahe der Piazza del Popolo, wo gerade irgendeine große politische Manifestation mit riesigem Polizeiaufgebot stattfand.
Und wir waren auch bei Julie und Pierre Higonnet in Castelnuovo di Farfa, einem kleinen Ort in den Sabiner Bergen, so klein, das die Zufahrt einem Feldweg glich und das Anwesen auch gar keine Hausnummer hat. Diese Begegnung vor anderthalb Jahren war nicht nur der Startpunkt zur Vorbereitung der Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, sondern in gewisser Hinsicht ein Schlüsselereignis. Mit Julie und Pierre hatten wir genau die richtigen Partner gefunden, um ein solches Projekt erfolgreich vorzubereiten. Sie repräsentieren nicht nur den Freundeskreis, der sich zur Vermittlung des Werkes von Velly gebildet hat, sondern auch ein Archiv mit einer Fülle von Material. Sie waren die Insider, die wir gesucht hatten, die zudem auch noch über eine überaus umfangreiche Sammlung von Velly-Arbeiten verfügten und die sich sofort bereiterklärten, die Kuratorenschaft für unsere Ausstellung zu übernehmen. Und außerdem waren sie – wie wohl alle Franzosen – ausgezeichnete Gastgeber. Können Sie sich das vorstellen, meine Damen und Herren: französische Küche vom Feinsten, umgeben von großer Kunst, in den Hügeln um Rom? Eine grandiose Kombination!
Begrüßen Sie mit mir Julie und Pierre Higonnet, die Kuratoren der ersten großen Einzelschau von Jean-Pierre Velly in Deutschland hier im Panorama Museum von Bad Frankenhausen.
Jean-Pierre Velly – Zwischen den Welten
31. Oktober 2009 bis 07. Februar 2010
Panorama Museum Bad Frankenhausen
Kuratoren: Julie und Pierre Higonnet, Farfa und Paris
Erstmals in Deutschland wird im Panorama Museum von Bad Frankenhausen mit mehr als 160 Kupferstichen und Radierungen, Mischtechniken, Zeichnungen, Aquarellen und auch Ölgemälden eine umfassende Werkschau des französischen Künstlers Jean-Pierre Velly (1943-1990) aus insgesamt 25 Schaffensjahren präsentiert. Nur rund dreihundert unikale Arbeiten und knapp einhundert grafische Blätter sind von ihm bekannt. Mehr hat er nicht hinterlassen, ein überaus rares, aber auch intensives, beeindruckendes und überzeugendes Werk, dessen Aufarbeitung lange noch nicht abgeschlossen ist und dessen angemessene Würdigung im Blick auf seinen kunstgeschichtlichen Stellenwert noch aussteht.
Jean-Pierre Velly, der mit nur 46 Jahren 1990 in seiner Wahlheimat Italien auf so tragische wie mysteriöse Weise ums Leben kam, ist gleichwohl bereits jetzt als einer der bedeutendsten Visionäre in der Kunst des 20. Jahrhunderts anzusehen. Er war nicht nur ein eminenter Grafiker, sondern auch Zeichner, der in seinem altmeisterlich beherrschten Können, seiner Formauffassung, bildnerischen Virtuosität und Wahrhaftigkeit unmittelbar an die ganz großen der Vergangenheit, speziell der Renaissance und des Manierismus, anschließt. Dürers Schaffen war ihm sicher ebenso vertraut wie die Hochleistungen der italienischen und französischen Schule oder die Grafik jener Zeit. Seine überaus einfühlsamen Stillleben und Landschaften, die sichtlich von bedrängender Melancholie und Transzendenz durchdrungen sind, offenbaren wiederum deutliche Bezüge zur nordischen Romantik eines Caspar David Friedrich. Die Lichträume eines Turner oder Lorrain sind vorgetragen mit der Präzision eines Peintre-graveurs, der den Stichel und die Radiernadel perfekt zu handhaben weiß.
Doch bei aller Rückbesinnung auf die »Alten« schuf Velly ein sehr zeitgemäßes, ja modernes Œuvre, das Elemente einer ganz eigenen subjektiv-existentialistischen Seinsauffassung bruchlos mit der gesteigerten Empfindsamkeit einer unmittelbaren Naturanschauung verbindet, die sich zu komplexen Sinnbildern des Seins verdichtet. Realität und Traumwelt, Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit bestimmen die Pole, zwischen denen sich das Werk des Künstlers in seiner Determination zum Tod hin entfaltet. Melancholie und Transzendierung des Sichtbaren sind zwei der bestimmenden Wesensmerkmale dieser Kunst, die ein Weltbild beschreibt, das überaus sinnlich, verletzbar und emotional, das existentiell erfahren, aber auch in höchstem Grade geistig ist.
Gerd LindnerReproduktionen über: Silke Krage, Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit
Tel: 034671 / 6 19 21 oder krage@panorama-museum.de