Jean-Marie Drot
Jean-Pierre Velly oder die überwundene Zeit
Aus dem Französischen von Marie-Louise Brüggemann
katalog part 1 part 2 part 3 part 4
So wie ein Seemann in seiner bretonischen Heimat ist Jean-Pierre Velly verschlungen worden, nicht vom Meer, das ihn in Audierne als Kind fasziniert hat, sondern von dem heimtückischen Gewässer eines italienischen Sees. Bei Bracciano.
Aber vielleicht ist Velly gar nicht tot? Er hat sich zurückgezogen. Irgendwo hin. Er hat sich entzogen. Ohne ein Wort der Erklärung ist er verschwunden, er hat unsere Schein- welt verlassen. Er hat die Oberfläche des Wasserspiegels durchdrungen, der seinen Kupferplatten so sehr ähnelt, in die er jahrelang, geduldig die Zeichen seines Universums eingeschrieben hat.
In dieser Kiel-Spur im See, in den Spritzwassern, die sie überdecken, am Rande der Wasser, hinterlässt Velly uns seine Selbstbildnisse, die uns immer, und mehr denn je, Fragen stellen, und jenseits unseres zerbrechlichen und vergänglichen Daseins das unmerkliche Verrinnen der Zeit lauernd beobachten.
Es erstaunt mich heute, wie äußerst sorgfältig und ganz be- wusst Velly diese Selbstbildnisse gezeichnet hat, damit sie nach dem Unfall entschlüsselt werden und uns von ihm ein Bild vermitteln, das er mit Bedacht gewählt und selbst allen anderen Bildern vorgezogen hat. So liefert Velly den Beweis dafür, dass ein wahrer Künstler über den Tod, über die Spuren des Alters und der Verwesung hinaus durch seine Penelope-Arbeit und durch seine Begabung, Dinge zu verwandeln und in einen kosmischen Umlauf zu brin- gen, die Zeit überwinden kann, dass er, selbst wenn seine Zeit abgelaufen ist, den Tod besiegen, ihn lächerlich ma- chen, ihm einen schon sicher geglaubten Sieg entreißen kann, einen, der vor allem endgültiger ist als der, den die Priester versprechen …
Um es kurz zu sagen: Der Traum der alten Ägypter wird von Velly in seiner Werkstatt in Formello wieder aufge- nommen. Überall in diesem Atelier, das eher dem eines Alchimisten als dem eines Grafikers gleicht, sehe ich die- ses Chaos, das Velly versammelt hat: aufgehängte Libel- lenflügel, ausgeblichene Knochen von Maulwürfen und Feldmäusen, zarte Skelette von Wiesenvögeln …
Eines Tages hatte ich das kaum merkbare Ticken eines Metronoms wahrgenommen, das vom trotzigen Kratzen des Stichels überdeckt wurde, mit dem Velly dabei war, es dem Knochenmann heimzuzahlen, auf eine ebenso siche- re Weise wie Schwefelsäure die Haut zerstört … In seinem farbigen Selbstbildnis aus dem Jahre 1988, was fixiert Velly so unerbittlich, Auge in Auge mit dieser furchtbaren Kraft eines Blicks, der uns trifft, nachdem er die Sternen- welt durchlaufen hat. Ja, wen?
Vellys linkes Auge, das kaum zu sehen ist, wird von einem herbstlichen Dunstnebel noch verschleiert, doch unter dem schwarzen Brauenbogen schaut das rechte Auge un- beirrbar und blinzelt nicht; es trotzt unbefangen dem Tod, um ihm seine Befehle zu diktieren, einem ängstlichen, zu- sammengefallenen Tod, der sich still und leise, seine Klau- en in den Falten der Tunika gefangen, zurückzieht …
Vor dem Hintergrund einer zeitlosen Nacht ähnelt dieses Porträt Vellys dem von Robur, dem Eroberer1, einem sieg- reichen Astronauten, der aus den Tiefen der Milchstraße zurückkehrt, nachdem er von dort den Planeten Erde be- trachtet hat, aus sicherer Quelle wissend, dass sie gut ist, wie es der Dichter bestätigt, »eine blaue Orange …«
Mit sehr freundschaftlichen Gedanken öffne ich Velly die Tür dieser Villa Medici, die er als ehemaliger Stipendiat bis in den hintersten Winkel kennt, und wo er gleich seine wahren Ahnen treffen wird; ich möchte ihn noch einmal betrachten, so wie er mich dieses Mal ansieht in seinem Selbstbildnis von 1987: Er hat sich ohne Selbstgefällig- keit und mit einer gewissen Strenge dargestellt, mit we- henden Haaren und geradem Oberkörper, um den Mund eine Spur von Bitterkeit; Vellys Augen blicken forschend, mustern herablassend, aber wen? Was? Jemanden?
Das Herannahen eines Feindes? Einer Gefahr? Immer der gleichen?
Auf diesem Gesicht eines Condottiere (im Sinne eines André Suarès, wie es dieser in seinem wunderschönen Buch über die Reise nach Italien versteht)2 lese ich jedoch nicht die geringste Angst. Wenn sich dort Furcht abzeichnet, dann verbirgt sie sich im Inneren. Ganz tief unten. Hinter der Schale. Nur für ihn allein.
Jean-Pierre Velly oder die überwundene Zeit. Velly oder der Ritter ohne Furcht und Tadel. Seine Waf- fen, Pinsel und Stichel, sind auf dem Arbeitstisch liegen geblieben und speichern noch ein wenig von der Wärme seiner Hand.
Manche werden sicher sagen – und ich habe während unseres Gesprächs 1989 Jean-Pierre Velly die unvermeidliche Frage gestellt –, dass sein Werk schlechthin »nicht zeitgemäß« ist, dass er »gegen den Strom schwimmt«. Aber ge- gen welchen Strom? Gegen den lächerlichen Kram, der, man fragt sich für wie viele Monate, alles überschwemmt? Galerien und Museen in Frankreich und in Navarra als Ovationen für einen Marcel Duchamp, im Grunde für sein normannisches Grab …
Nicht zeitgemäß?
Oder vielmehr Bestätigung einer gewollten Kunst, be- wusst gewählt, über die Modetrends hinaus geschaffen? Nach einem rein persönlichen Anspruch, der ebenso mo- ralisch wie ästhetisch war.
Kann man übrigens diesen grauenhaften Veranstaltungen voraus sein oder ihnen hinterherhinken, Veranstaltungen, die leider die Beamten der Beerdigungsinstitute der internationalen Konzeptkunst ins Programm nehmen?
Das heißt nirgends …
Denn das Nichts schließt nur sich selbst ein. Nichts, das ist nichts. Nicht mehr und nicht weniger. Immer mehr Menschen glauben, dass alles zurückerobert werden muss. Eines Tages. Jenseits dieser Trümmer. Die Sanduhr ist zerbrochen worden, zersplittert. Es bleiben nur, verstreut, die Überreste einer Welt, die sich ihrer selbst schämt.
Bei Jean-Pierre Velly hingegen ist es über das Sichtbare seiner Begabung hinaus sein Talent, das Innere und das Äußere zu erfassen, den Körper und den Geist, die Nacht und das Licht, den Verfall wie die Vorzeichen einer Er- neuerung. Einer Renaissance.
Aus: Jean-Pierre Velly, Fratelli Palombi Editori, Rom 1993
1 Anm. d. Übers.: »Robur, der Eroberer« ist ein Roman von Jules Verne (1828–1905), in dem die Titelgestalt mit einem lenkbaren Luftschiff zum Beweis seiner Überlegenheit einmal um die Welt fliegt.
2 Anm. d. Übers.: »Die Reise eines Condottiere«, Roman von André Suarès, einem französischen Dichter, Schriftsteller und Essayisten (1868–1948), der stark von Nietzsche beeinflusst war und auch Porträts genialer Künstler schrieb; in der gedruckten deutschen Übersetzung lautet der Titel des Romans »Eine italienische Reise«.