Rosaria Fabrizio
JPV. Geschichte einer Ausstellung fast 20 Jahre nach dem Tod des Künstlers
Giuliano de Marsanich und die Galerie Don Chisciotte
Aus dem Italienischen von Petra Kaiser
Die Galerie lag in einem Gässchen mitten in Rom, nur ein paar Meter von der herrlichen Piazza del Popolo entfernt. Drinnen, in dem relativ kleinen Raum, sah es aus wie in einer Werkstatt aus einer anderen Zeit. An den Wänden hingen Gemälde von Piero Guccione, Giuseppe Modica, Jonathan Janson, Ana Kapor, Vladimir Pajević … und ein paar Graphiken von Jean-Pierre Velly. Über den Raum verstreut Spielzeug, Theatermodelle und lebensgroße Marionetten aus Pappmaché, wie sie der Besitzer der Galerie einst selbst herstellte, als er sich – möglicherweise schweren Herzens – von der Malerei und Grafik, der Zeichnung und dem Aquarell verabschieden musste und sich ganz dieser ursprünglichen Leidenschaft zugewandt hatte. Als wir uns etwas umgesehen haben, kommt er herein und begrüßt uns: »Herr Lindner, Frau Fabrizio, wie geht’s Ihnen?« »Danke gut«, antworte ich. Schweigend sieht er mich eine Weile an und sagt dann: »Gut. Aber jetzt sagen Sie mal die Wahrheit … wie geht’s Ihnen wirklich?« Damit war die übliche Maskerade geheuchelter, nichtssagender Höflichkeiten hinfällig und es entspann sich sofort ein offenes, lebhaftes Gespräch, wobei sich rasch herausstellte, dass wir hier einen außergewöhnlichen Menschen vor uns hatten. Meistens ist die erste Begegnung mit einem Menschen eine Art Farce, wo man sich gegenseitig etwas vorspielt und mit der Wahrheit hinter dem Berg hält. Diesmal war es jedoch ganz anders, denn es begann sofort ein langer, ernsthafter Dialog. Unser erstes Treffen fand im Mai 2008 statt, als Giuliano de Marsanich zusagte, uns bei der Suche nach einigen Werken zu helfen, die wir für unsere Ausstellung im folgenden Herbst aufspüren wollten. Doch in Wirklichkeit war das nicht der einzige Grund für unser Treffen. Wir waren einfach neugierig und wollten den Mann kennenlernen, der Jean-Pierre Velly persönlich gekannt hatte. Als wir zwei Jahre zuvor über zukünftige Projekte sprachen, erzählte mir der Direktor des Panorama Museums von einem gewissen Velly, von dem er ein paar Werke gesehen habe, die ihn so beeindruckt hätten, dass er über diesen Künstler unbedingt eine Ausstellung machen wolle. Also machte ich mich auf die Suche, wurde aber bald enttäuscht, weil meine ersten sporadischen Recherchen gar nichts ergaben. Das änderte sich erst, als ich schließlich auf die Galerie Don Chisciotte stieß und anhand ihres Ausstellungsprogramms feststellte, dass sie für den Künstler, den ich gerade erst entdeckte, von zentraler Bedeutung war.
Mit de Marsanich über JPV zu sprechen, war ziemlich aufregend. Häufig huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er sah träumerisch in die Ferne, während er sich über den weißen Bart strich. Unsere Fragen beantwortete er stets entschieden, wenn auch lakonisch. Aber wir wussten, dass er viel zu erzählen hatte. Seine Antworten waren indes meist kurz und bündig. Sicher, er erzählte viele interessante Dinge, aber wir spürten, dass das eigentlich Wichtige im Verborgenen blieb. Er sah JPV als einen modernen Don Quichotte, einen Helden des schönen Wahns, der sich von der Figur des spanischen Ritters inspirieren ließ. Folglich handelte es sich um eine echte Wahlverwandtschaft, denn genauso wurde er selbst von Fulvio Abbate beschrieben: »Auf seine Art gleicht auch Giuliano de Marsanich einem Don Quichotte, denn er hat die Hände eines Künstlers und Kunsthandwerkers und damit kultiviert er die Erinnerung, das Schachspiel, die Konversation, die Revolte, die Ironie, den Sarkasmus.«
Die Begegnung mit de Marsanich war der eigentliche Beginn unseres Abenteuers, von dem ich nun berichten will. Er erzählte uns von den Anfängen des Künstlers, schilderte, wie sich aus einer eher zufälligen Begegnung eine zwanzigjährige Zusammenarbeit ergeben hatte, die nur durch den fatalen Tod des Künstlers ein Ende fand. Er erzählte, wie die Berühmtheiten aus Film und Theater plötzlich in seiner kleinen Kunstschmiede auftauchten, um herumzustöbern, und von Vellys Arbeiten so begeistert waren, dass sie etliche davon erwarben. Auch bei der ersten Einzelausstellung erschien ein Großteil der Filmprominenz dieser goldenen Jahre: Gassman, Tognazzi, Zavattini … Später wurde das als reine Modeerscheinung abgetan, denn beim großen Publikum blieb JPV weitgehend unbeachtet. Doch alle, die ihn kannten, waren offenbar so hingerissen, dass sie zu Sammlern wurden. Deshalb ist das auch unser Ausgangspunkt, denn wir wollen den Weg seiner Sammler verfolgen und von ihrer bedingungslosen Hingabe an seine Kunst berichten, um uns, sozusagen vom anderen Ende, diesem großen Künstler und Menschen zu nähern.
Giorgio Soavi, Olivetti und Barilla
Ein besonders eigenwilliger Sammler war Giorgio Soavi (1923–2008). Nachdem sie sich persönlich kennengelernt hatten, führte Soavi oft lange Telefongespräche mit JPV oder besuchte ihn in Formello, um mit eigenen Augen zu sehen, was er malte, vor allem aber, wie er malte. Soavi wollte verstehen, wie sich einfache Feldblumen durch alchemistische Prozeduren in sublime Kunstund Lebensbotschaften verwandelten, gerade so, wie er es 1986 in seinem Aufsatz Il quadro che mi manca schildert. Soavi war Journalist, Schriftsteller und Dichter, er liebte die zeitgenössische figurative Kunst und war ein großer Bewunderer von Vellys Werken, was er in seinen Schriften immer wieder durchblicken ließ. Ihm ist es auch zu verdanken, dass sich große Unternehmen wie Olivetti und Barilla für Vellys Werke zu interessieren begannen. Wir haben das große Glück, in der Ausstellung wie im Katalog Werke aus diesen beiden Sammlungen zeigen zu können, eine besondere Ehre, da man dort mit Leihgaben im Allgemeinen eher zurückhaltend ist.
Zwei Unternehmen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch die gleiche Kunstleidenschaft teilen, insbesondere für die gegenständliche Kunst der Gegenwart. Durch Vermittlung von Giorgio Soavi erhielt Velly von Olivetti einen Auftrag für 13 Aquarelle, die zur Illustration des Firmenkalenders von 1986, einer Jahresgabe für Mitarbeiter, Freunde und Kunden, vorgesehen waren. Damals hielt man bei Olivetti, auch dank des unermüdlichen Engagements von Giorgio Soavi, noch an der Philosophie des Unternehmens fest, die der 1960 plötzlich verstorbene Firmengründer Adriano Olivetti einst eingeführt hatte, als das Unternehmen zu den florierendsten in Italien zählte. Dort kümmerte man sich nicht nur um das wirtschaftliche Wachstum, sondern auch um die kulturelle Bildung der Mitarbeiter. Zu Lebzeiten von Adriano Olivetti ging in dem Werk in Ivrea (Provinz Turin) alles ein und aus, was in der italienischen Kunst und Kultur einen Namen hatte, darunter Moravia und Pasolini, um nur einige zu nennen. Während der Arbeitszeit hielt man dort Geschichtsseminare ab, zeigte Filme und organisierte Gemäldeausstellungen. Getreu dem Wahlspruch, dass die geistige Entwicklung nur durch das Streben nach Schönheit und Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit gefördert werden kann. Adriano Olivetti wollte die jungen Leute an ein Verständnis der kulturellen Werte heranführen. »Wenn sie in ihrem Leben mit dem Schönen in Kontakt kommen, wird ihnen das helfen, bei ihrer zukünftigen Arbeit ihr bestes zu geben.« So sein Statement in einem seiner letzten Interviews.
Um Schönheit ging es auch Soavi, genau die Schönheit, die ihn in Vellys Aquarellen zuallererst und vor allem beeindruckt hatte.
So schrieb er, kurz nachdem er die ersten Werke von Velly gesehen hatte (in: Epoca, Jg. XXXV, Heft 1749, Mailand, 13. April 1984): »Ich glaube, sein Herbarium ist frisch gepflückt, und Velly schaut darauf wie ein Kind, das gerade die große Entdeckung macht, dass Gras unseren Planeten umhüllt. Jeder aufrechte Grashalm erinnert zwangsläufig an das große Rasenstück von Dürer, jeder Hase ist ein Dürer. Alles, was nach diesem Feldhasen kam, war nichts anderes als eine Variation des Themas. Doch bei Velly sind Blumen und Gräser zwar transparent wie bei Dürer, zugleich aber auch fleischig, aus grünem Fleisch, voll duftender, saftiger Fasern; diese Grashalme kennen wir, schon tausendmal, bei jedem Ausflug, haben wir darauf herumgekaut, bis sich dieser einzigartige, bittere Geschmack im Mund einstellt. […]
Seine Zeichnungen lösen in mir die gleiche Inbrunst aus wie die sakrale Kunst, die Verkündigung, die Geburt Jesu, die Erschaffung der Welt. Staunen, Inbrunst. Die Welt kocht, rast aber nicht in die Katastrophe, denn für einen Augenblick wurde sie angehalten oder hat sich selbst angehalten, um ein neu geborenes Geschöpf zu betrachten; und die Atmosphäre um dieses Ereignis ist die gleiche, die sich einem mitteilt, wenn man die Meisterschaft sieht, mit der Jean-Pierre seine Gräser gezeichnet hat.«
Und wieder war es Soavi, der den bekannten italienischen Pastafabrikanten Pietro Barilla (1913–1993), auch er ein Sammler zeitgenössischer Kunst, mit Vellys Werk bekannt machte. Sein Sohn Luca erinnert sich an das Treffen zwischen seinem Vater und Velly: »Mein Vater hatte nicht mehr die Zeit, Velly richtig kennenzulernen. Aber 60 ich weiß, dass er von seiner Feinsinnigkeit und Sensibilität (die er sofort spürte) fasziniert war und dass sein plötzlicher Tod ihn stark erschüttert hat. Ich weiß noch genau, wie verstört er war und wie sehr er es bedauerte, dass er nichts hatte tun können, um die Tragödie zu verhindern.«
Pietro Barilla war ein ungewöhnlicher Sammler, wie wir aus einem Artikel von Elisabeth Sciarretta in der Zeitschrift Aurea Parma entnehmen: »›[…] Immer wenn ich mich freute, kaufte ich ein Kunstwerk. Jeder zeigt seine Freude auf andere Weise; ich zeigte sie, indem ich ein Gemälde oder eine Skulptur erwarb. Ich belohnte mich selbst und alle, die mit mir lebten.‹ (Natalia Aspesi, Li ho comprati per allegria, La Repubblica, 15. April 1993). […] Seine Sammelleidenschaft hatte nichts mit Kunstkritik, mit intellektuellen, logischen Kriterien zu tun. In allen Interviews hat Pietro stets bekräftigt, dass die Idee, die Kunst in das Unternehmen zu bringen, an den Ort der Produktion, aus seinem Wunsch entstand, die eigenen Gefühle mit anderen, in diesem Fall mit seinen Mitarbeitern, zu teilen. Diese Grundidee, andere an seinen Empfindungen und Gefühlen teilhaben zu lassen, übertrug er auch auf seine Mitbürger. Deshalb stellte er 1993 einen Teil seiner Sammlung in der Fondazione Magnani Rocca aus, damit sein achtzigster Geburtstag für die ganze Stadt ein Freudentag würde. […]«
In dieser Ausstellung in Parma wurden vier Werke von Velly gezeigt, die Roberto Tassi eigens für diesen Anlass ausgewählt hatte: Verzweiflung des Malers (1987), Selbstbildnis (1988), Die Eiche (1989) und Die grosse Stunde (1989).
Über einige dieser Bilder schrieb Soavi 2002 in seinem Artikel La realtà oltre l’immagine: »[…] In dem Bild Verzweiflung des Malers aus dem Jahre 1987 ist die Welt gespalten: oben eine kosmische Szene mit Lavabröckchen, die den Himmel füllen, unten, zu unseren Füßen, die Verästelung dieser Lapilli zu einem unheimlichen Sternbild. Dabei weiß man nicht, welcher der beiden Teile ihn mehr erregt. Doch mit Sicherheit lag die Verzweiflung des Künstlers in diesem weichen, aber unheimlichen LuziferKosmos.«
Und weiter (Il Giornale, La luce all’ombra della quercia, 30. Mai 1990): »Die grosse Eiche, die in seiner letzten Ausstellung in Parma erstrahlte (gemeint ist die Ausstellung in der Galerie Sanseverina), gehörte zum Park einer Villa in der Gegend von Sutri. Velly hat den Augenblick festgehalten, in dem Licht und Schatten sich noch zu behaupten versuchen und aufrecht stehen, auch wenn das Tageslicht sich bereits verabschiedet und zur Ruhe legt. Die Polster, von denen man zuschaut, standen nicht bei der Villa, aber auch nicht auf der anderen Seite, wo die Sonne unterging. Bald wird ein dichter Schatten heraufziehen, feucht und tropfend, ein Abgrund, in dem nichts mehr wächst. Dieses Bild voller Vorahnungen wirkte wie ein Selbstbildnis, so ernst, aber auch voller Lust, sich selbst im Spiegel der Malerei zu betrachten, um durch diesen Blick ein Stück des eigenen Grauens mitzuteilen. Einen Blick, den JPV so gut wiederzugeben verstand, da er die gleiche Spannung ausdrückt, die zwischen Licht und Schatten herrscht, ein Reservoir der Angst, das Leben könne gehen, während wir noch da sind.«
Die große Stunde
Von den vier Bildern der Barilla-Ausstellung, die auch wir für unsere Ausstellung ausgewählt haben, sticht eins besonders hervor: Die grosse Stunde. Die Stunde, in der alles möglich ist. Die Stunde, in der alles geschieht. Die Stunde, die es nicht gibt. Morgendämmerung und Sonnenuntergang, Geburt und Tod. Eins seiner besten Selbstporträts, dunkle Ahnung und freudige Erwartung dessen, was bald danach geschehen sollte. Der stürmische Himmel mit dunklen blaugrauen Wolken, die zum Horizont hin lichter werden, reißt auf, um einen blendend hellen Lichtstrahl durchzulassen, der die Landschaft im Hintergrund erleuchtet. Während das kleine Landhaus einsam und verlassen dasteht, voller Stolz den Unbilden des Wetters trotzt und stumm und schweigend den jagenden Wolken nachschaut. Nur ein verstecktes, nervöses Etwas geht in den Zimmern um und lässt sich ab und zu am Fenster sehen. Rundherum ragen böcklinsche Zypressen in die Höhe, das heile Haus in der Mitte: Auf einer Seite erstreckt sich ein Wald, wildes, ursprüngliches Grün, üppig sprießende Natur, auf der anderen Seite klafft ein bodenloser Abgrund, der alles zu verschlingen droht und einem keine Atempause gönnt … jeden Augenblick könnte man abstürzen …
Im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung, JPV sei ein Pessimist gewesen, sagte er selbst in einem Gespräch mit Jean-Marie Drot im Jahre 1989: »Anstatt von Pessimismus würde ich lieber von Realismus sprechen. Ich meine: ›Das Leben ist eine wunderbare Sache, die in jedem Fall aber schrecklich schlecht ausgeht.‹ Wir leben; Rom ist da; die Luft ist klar; doch was immer das Warum und Wie dieser mysteriösen Angelegenheit sein mag, eines Tages sterben wir. Der Tod eines Einzelnen ist äußerst dramatisch für den, der stirbt, und relativ wenig dramatisch für alle anderen. […] Mit den Farben möchte ich ausdrücken, dass alles nicht so schlimm ist, dass ich zwar eines Tages sterben werde, aber die Menschheit weiter existiert, und selbst wenn das Leben eines Tages von der Erde verschwinden würde … vielleicht wirkt diese Art Realismus dramatisch, aber in Wirklichkeit ist sie das gar nicht.«
Velly hatte ein direktes Verhältnis zum Tod. Er wusste, dass er zum Leben dazugehört. Ein Kreis, der sich schließt. Alles ist Anfang und Ende. Unser Leben beginnt mit der Empfängnis, diesem grandiosen, geheimnisvollen Ereignis, dann läuft die Zeit, die wir hektisch zu nutzen versuchen, sobald der Vorhang sich gehoben hat. Zeit haben wir nie genug. Aber Zeit wozu? Der Gedanke an den Tod behindert uns bei unseren Vorhaben, durchkreuzt unsere Pläne, deshalb verdrängen wir ihn, schieben ihn von uns, vermeiden es, daran zu denken … Im Gegensatz dazu sah JPV den Tod als Hoffnung. Die Hoffnung auf eine Aussöhnung mit sich selbst, wo alles Leiden für immer schweigt und das nutzlose Gewicht des Körpers endgültig von einem abfällt. Lässt man sich auf das Spiel mit Umkehrungen ein, wie Velly es beispielsweise bei der betörend schönen Rosa in der Sonne vorführt, die sich in einem Schrotthaufen spiegelt – zwei Seiten der gleichen Medaille –, so könnte man fast auf die absurde Idee kommen, JPV habe das Geheimnis des Lebens gekannt: nämlich sich vor dem Tod nicht zu fürchten.
Pierre Higonnet und seine magische Begegnung mit Jean-Pierre Velly
Als ich die Internetseite des JPV-Freundeskreises entdeckte, schrieb ich eine kurze Mail an Pierre und Julie Higonnet und teilte ihnen in wenigen Zeilen mit, dass wir im Panorama Museum gerne eine Velly-Ausstellung machen würden.
In wenigen Stunden wurde ich mit Fragen und Bemerkungen überhäuft. In seiner Begeisterung kaum zu bremsen, preschte Higonnet so ungestüm voran, dass wir einfach mitgerissen wurden und schlagartig mittendrin waren, im Herzen all dessen, was das Werk, den Künstler und die Organisation der Ausstellung betraf. Mit seinen zerzausten, schneeweißen Haaren, dem scheinbar unbeteiligten Blick, dem pausbäckigen Gesicht und seinem witzigen Akzent ließ sein Äußeres kaum erahnen, welch tiefgründiges Gemüt sich darunter verbarg. Higonnet hatte JPV nur ein einziges Mal getroffen, und zwar zwei Wochen vor dessen Tod. Damals war er selbst noch ein ziemlich unerfahrener junger Mann, der über die Fährnisse des Lebens so gut wie nichts wusste. Und dennoch – so schreibt er auf der Internetseite – blieb das für ihn eine unvergessliche Erfahrung, die ihn nachdrücklich geprägt hat. Eine spannende Geschichte, denn nur durch Zufall, fast im Vorbeigehen, geriet er an JPV, und doch nahm sein Leben dadurch eine schicksalhafte Wende.
Zwei Fragen und schon ist er nicht mehr zu stoppen: »Die Druckgrafik war schon immer meine Leidenschaft. Meine Mutter stammte aus einer Familie von Antiquitätenhändlern, während sich die Familie meines Vaters mehr mit Kunstdruck beschäftigte. Daher erschien mir die Grafik von Anbeginn wie ein natürlicher Berührungspunkt dieser beiden Kulturen. Als Kind ging ich jeden Mittwoch mit meiner Mutter in den Louvre und ich weiß noch, dass ich mit der zeitgenössischen Kunst so meine Schwierigkeit hatte. Ich fand sie hässlich und uninteressant. Es blieb mir lange ein Rätsel, warum das 20. Jahrhundert so wenig ernstzunehmende Kunstwerke hervorgebracht hat, bis ich endlich darauf kam, dass sich die Galerien in ihren Programmen mehr nach Markterfordernissen richteten, als nach Schönheit.
Nach dem Studium interessierte ich mich vor allem für Fotografie und arbeitete fünf Jahre in der Werbung, eine Branche, die ich jedoch stets für wenig profiliert hielt. Dennoch hatte ich auf diesem Gebiet einige Erfolge, was mich jedoch kaum interessierte, weil ich ohnehin die Absicht hatte, Paris zu verlassen. Es zog mich nach Italien, vor allem Venedig hatte es mir angetan, sodass ich mich im Juli 1989 dort niederließ. Einer meiner ersten Bekannten in Venedig war der Grafiker und Bildhauer Edo Janich, der sein Atelier direkt neben meiner Wohnung hatte. Schon in Paris hatte ich hobbymäßig ein paar Grafiken gemacht, nicht um Kunst zu schaffen, sondern mehr um die Technik auszuprobieren. Und als ich Janich kennenlernte, wurde ich bald sein Mitarbeiter. Anfang Mai 1990 hatte Janich eine Einzelausstellung in der Galerie Don Chisciotte in Rom, und ich ging mit ihm zur Vernissage. Rein zufällig lernte ich an diesem Abend JPV kennen, von dem ich bis dahin nur durch Erzählungen von Janich gehört hatte, der ihn seit zwanzig Jahren kannte und seine Arbeiten schätzte. Als wir in der Galerie ankamen, stellte Giuliano de Marsanich mir Velly vor. Damals spielte ich mit dem Gedanken, selbst eine Kunstgalerie zu eröffnen, weil mir eine Kunstrichtung vorschwebte, die sich von den Angeboten der anderen Galerien deutlich unterschied. Damals war ich aber erst 23, wie Velly als er nach Italien kam, und ich hatte nichts, keinen Namen, kein Geld, geschweige denn irgendwelche Verträge mit Künstlern; ich verließ mich nur auf mein Urteil und meinen Instinkt. So begann ich, die Galerien abzuklappern, nicht auf der Suche nach dem, was sich gut verkaufte, sondern nach etwas, was mir gefiel. Als de Marsanich von meinen Plänen hörte, gab er mir ein paar Kataloge, darunter, das weiß ich noch wie heute, Vellys Bestiaire perdu.
Nach der Vernissage gingen wir alle zum Essen in ein Restaurant in der Nähe der Galerie. Es war ein ganz besonderer Abend. Denn ich saß zufällig neben JPV und wir unterhielten uns den ganzen Abend, unter anderem auch deshalb, weil ich damals noch kaum Italienisch sprach. JPV war klein, schmächtig, hatte eine richtige Mähne, die ziemlich Eindruck machte. Er redete wenig, strahlte aber eine starke Energie aus, fast wie eine Aura, eine Kraft, die schwer zu beschreiben ist. Es kommt im Leben nicht oft vor, dass man einen Menschen trifft, der, obwohl er kaum redet bzw. wenig mit Worten ausdrückt, trotzdem einen inneren Reichtum offenbart, der bei seinem Gesprächspartner den stärksten Eindruck hinterlässt. Wir plauderten den ganzen Abend, doch in Wirklichkeit wusste ich gar nicht, wer er war, bewusst war mir nur, dass ich einen ganz besonderen Menschen vor mir hatte. Ein paar Wochen später, als ich schon längst wieder in Venedig war, erfuhr ich von meinem Bekannten Serge d’Urach, einem Schweizer Künstler, dass JPV auf tragische Weise im See von Bracciano ertrunken war. Diese Nachricht verstörte mich zutiefst. Dann sagte d’Urach, der Velly in den achtziger Jahren gut gekannt hatte, einen Satz, der mir noch lange im Gedächtnis blieb. ›Lieber Pierre, JPV war der Rolls-Royce unter den Grafikern!‹ Diese Worte haben sich mir tief eingeprägt. Später eröffnete ich auf der Giudecca in Venedig die Galleria del Leone und spezialisierte mich auf Papierarbeiten, zum größten Teil Druckgrafiken, aber auch Zeichnungen und Aquarelle. Ich vertrat verschiedene Künstler, aber d’Urachs Worte ließen mich nicht los. 1993/1994 hatte ich dann Gelegenheit, mich Vellys Welt zu nähern, denn in Venedig fand die Ausstellung Du Fantastique au Visionnaire statt und einer der Kuratoren war Michel Random. Ich erinnere mich noch, dass Random unbedingt wollte, dass JPV auf der Ausstellung vertreten wäre, und so schlug ich ihm vor, mich darum zu kümmern. Ich nahm Kontakt mit Vellys Frau Rosa Estadella in Formello auf und lud sie ein, ihre Arbeiten und eine Grafikreihe von JPV in Venedig auszustellen.
Als Rosa mir 40 Grafiken ihres Mannes brachte, beschloss ich, diese separat auszustellen, und veranstaltete eine Art Einzelausstellung im Miniformat. In diesem Zusammenhang hatte ich Gelegenheit, meine Bekanntschaft mit Michel Random, einem glühenden Velly-Verehrer, zu vertiefen. Allerdings verkaufte ich kein einziges Blatt und war schon im Begriff, alle zurückzugeben. Aber Rosa wollte, dass ich sie behielt und bot mir an, sie nach und nach zu bezahlen. So kam es, dass die 40 Blätter im Verlauf von fünf, sechs Jahren in meinen Besitz übergingen. Einige davon zeigte ich auf der Messe in Bologna, doch glücklicherweise verkaufte ich auch dort nichts. Ende der neunziger Jahre kam mir dann die Einsicht, dass wenigstens bei mir die Zeit für Velly noch nicht reif war. Daraufhin entfernte ich alle Werke aus der Galerie und hängte sie bei mir zu Hause auf, sodass bald alle Wände mit diesen faszinierenden, extrem mysteriösen Grafiken tapeziert waren, an denen ich immer noch herumrätselte. Ich bewunderte die Blätter, ließ immer wieder den Blick forschend darüberwandern. Sie waren wirklich schwer zu verstehen! So vergingen die Jahre, bis mir eines Tages – das war 2002 – mein Nachbar Gianni Scatafassi, auch er ein glühender Bewunderer von Velly, mitteilte, dass es in Formello eine große Ausstellung geben würde. Ich fuhr hin und sah dort viele Grafiken, die mir nicht gehörten. Um ehrlich zu sein, damals ging die Galerie alles andere als gut; aber ich hatte ein bisschen Geld gespart, denn es war nie mein Bestreben, mich an Kunstwerken zu bereichern, und so hatte ich die Einkünfte stets wieder in den Ankauf neuer Stücke investiert.
Bei der Ausstellung in Formello, die von Giuseppe Appella kuratiert wurde, wurde mir klar, dass ich gern die Blätter gekauft hätte, die in meiner Sammlung noch fehlten. Damals war Rosa nach langer Krankheit verstorben. So wandte ich mich an de Marsanich, der mir 17 Grafiken zur Seite legte. Diese kaufte ich auf einen Schlag. An diesem Tag hatte ich ein Hotelzimmer in der Nähe der Piazza Navona genommen. Und als ich in diesem Hotelzimmer saß, sagte ich mir, nun sei der Augenblick gekommen, diese Werke mit dem gebührenden Ernst zu betrachten, immerhin hatte ich dafür ein kleines Vermögen ausgegeben. Ich schaltete das Licht ein und öffnete die Mappe. In diesem Augenblick geschah etwas einzigartiges, wundersames, es kam mir vor wie ein Wunder. Ich saß da wie versteinert! Von den Blättern ging ein gleißendes Licht aus, das stärker blendete als das Sonnenlicht. Diese magischen Bilder waren mit einer geheimnisvollen Substanz getränkt. In diesem kleinen Hotelzimmer verbrachte ich viele Stunden damit, meine Grafiken Stück für Stück zu betrachten und entdeckte dabei zahllose Details, Objekte, Gestalten, versteckte Gesichter. Immer wieder entdeckte ich etwas Neues und konnte mich von dem Anblick nicht losreißen. Fast wie in Ekstase begriff ich, dass ich ein einzigartiges Werk in Händen hielt, das auf der Welt seinesgleichen sucht. Kein anderes Werk hatte mich je so fasziniert, meine Neugier geweckt und mich durch Technik und Genie, Kreativität und Tiefe des philosophischen und metaphysischen Gehalts derart in seinen Bann geschlagen. Ich wurde von der Stärke der Gefühle geradezu überwältigt. Als ich mit der Mappe unter dem Arm wieder in Venedig ankam, begann ich meine Sicht der Werke von JPV noch einmal grundlegend zu überdenken. Da mir nun ihre ungeheure Dichte aufgegangen war, nahm ich mir an diesem Tag vor, nicht locker zu lassen und mich die nächsten Jahre, vielleicht auch mein Leben lang, eingehend damit zu beschäftigen. Da ich außer meinen Ersparnissen auch noch Geld von meiner Familie hatte, begann ich den Markt abzugrasen. Mit Listen, die ich mit der Zeit erstellt hatte, fuhr ich nach Paris, in die Bretagne, in die Schweiz, nach Mailand, Rom und Brescia und kaufte nicht nur weitere Grafiken auf, sondern auch verschiedene Abzüge derselben Grafik sowie Unikate. Nach und nach trug ich Informationen zusammen, sprach mit Leuten, die JPV persönlich gekannt hatten, mit seinen Freunden, Familienangehörigen und Sammlern, alles Kontakte und Namen, die ich von de Marsanich oder Michèle Broutta, der Galeristin von JPV in Frankreich, bekam. All diese bat ich, mir von dem Künstler, dem Menschen, dem Lebensgefährten zu erzählen, denn ich hatte die Idee, eines Tages seine Biographie zu schreiben und ein Werkverzeichnis zu erstellen.
Auf diese Art wollte ich die vielen Einzelteile zusammenfügen, um das komplexe Puzzle wiederherzustellen, das sich nach dem Tod des Künstlers noch weiter zersplittert hatte. Und jedes Mal, wenn ich seine Werke betrachtete, geschah etwas Magisches, so etwas passiert nur bei großen Künstlern und echten Meisterwerken.
Gerade in seinen Grafiken entdeckte ich fortlaufend etwas Neues, denn ihr Mikrokosmos ist voller Symbole, versteckter Bilder und kleiner Inschriften. Auch heute noch stoße ich immer wieder auf wichtige Dinge, nicht bloß Details, sondern wirklich neue Interpretationsansätze. Diese Beschäftigung hat mein Leben geprägt.
Anfang 2003 sprach mich mein Freund Slobo an, für den ich seit Jahren als Berater tätig bin. Slobo stammt aus dem früheren Jugoslawien, ist selbst Künstler und leitet die Grafiktriennale für das kleine Format in Chamalières. Auch Slobo kannte JPV und war von ihm stark beeindruckt. Als er erfuhr, dass ich Vellys gesamtes grafisches Werk besaß, stellte er uns die Rotunde des Kunstmuseums in Clermont-Ferrand für eine Einzelausstellung zur Verfügung. Ein kühnes Unterfangen! Zwar war ich im Besitz der Werke und hatte auch schon etliches recherchiert, aber Texte zu schreiben und einen Katalog zu erstellen, das traute ich mir nicht zu. Dazu brauchte ich Hilfe, jemanden, der sich im Museumswesen auskannte und mir bei der Themenwahl und der Zusammenstellung des Katalogs helfen würde. Dabei dachte ich an Julie Grislain, eine junge Frau aus Paris, die mir ein Freund vor einiger Zeit vorgestellt hatte. Julie war Kunsthistorikerin, sehr sympathisch, und als ich wieder einmal in Paris war, beschloss ich, mich mit ihr zu treffen. Zu meiner großen Verblüffung, war sie im Begriff, Frankreich zu verlassen, ihre Arbeit in Versailles und im Musée Cernuschi aufzugeben und nach Italien zu gehen. So engagierte ich sie für die Vorbereitung der Ausstellung, die für Ende 2003 geplant war. Am 1. Mai kam Julie in Venedig an und machte sich sofort an die Arbeit.
In diesem Jahr fand die Biennale statt und ich hatte sehr viel zu tun. Deshalb arbeiteten Julie und ich Tag und Nacht, zumal die Zeit langsam knapp wurde.
Gemeinsam bauten wir im MARQ in Clermont-Ferrand die Ausstellung auf, und nach der Eröffnung beschlossen wir, die Mutter von JPV zu besuchen und ihr einen Katalog vorbeizubringen. Also verabredeten wir uns in der Bretagne. Leider konnten wir Madame Velly nicht besuchen, weil sie sehr krank war, aber auf dieser Reise entdeckten wir unsere gegenseitige Liebe. Und von diesem Augenblick an waren wir immer zusammen.
Seit 2003 haben wir große Fortschritte gemacht und das Gesamtwerk weitgehend erschlossen. Es umfasst ca. 300 Unikate und 97 Druckplatten, von denen etwa fünfzehn leider verloren gingen. Außerdem haben wir rund 300 Stunden Videofilm mit Interviews von Freunden, Verwandten und Sammlern gedreht. Und auch für das Werkverzeichnis haben wir eine Unmenge Material gesammelt.
Gern würde ich diesen großen Künstler auch in anderen Ländern bekannt machen. Ich denke dabei an Frankreich, Deutschland und Österreich, aber auch an die Schweiz und natürlich an Amerika.
Velly hätte es verdient, denn im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern ist sein Werk vollkommen eigenständig. Velly wurde nie durch irgendjemand beeinflusst, seine Kunst war nie kommerziell. Er hat immer nur das gemacht, was er selbst wollte. Im Gegensatz dazu lassen sich manche Künstler oft aus Karrieregründen einwickeln. Für Velly war die Kunst eine Art Religion, eine Glaubenssache, mithin frei von jeder Fremdbestimmung, autobiographisch, authentisch. Zugleich jedoch keineswegs bloß rein persönlich. Nicht nur jedenfalls. Wäre sie das, würde sie nur ihn selbst zeigen. In Wahrheit jedoch fasst der Künstler, indem er sich selbst beschreibt, die gesamte Menschheit, wie in dem wunderbaren Roman von Camus. Es geht um eine wahrhaft große, nicht nur philosophische Botschaft. Sein Erbe lehrt uns, dass jedes noch so bescheidene, noch so unbedeutende Ding Beachtung verdient. Ein Insekt, ein Grashalm werden zur Welt, eher als irgendein anderes Objekt. Wenn man sie aufmerksam beobachtet, mit der erforderlichen Hingabe, mit gewissenhafter Umsicht, versteht man ihren Ursprung, ihr jetziges und ihr zukünftiges Leben. Und schließlich auch ihren Tod. Sie enthalten Anfang und Ende einer unablässigen Evolution, einer unaufhörlichen Erneuerung. Diese unendliche Metamorphose hat mich zutiefst getroffen. Wenn ich zurückschaue, dann gibt es ein Leben vor und ein Leben nach JPV. Meine Sicht der Welt hat sich grundlegend verändert. Heute bin ich immerzu fasziniert vom unerschöpflichen Reichtum der Dinge, der Menschen, der Wolken, der Landschaft, einer Muschel oder einer Schnecke. Dank JPV hat sich für mich alles in eine Art Wunder verwandelt. Diese biologische Evolution, deren Frucht wir sind, erlaubt uns eine totale, wunderbare Betrachtung der Welt, die uns umgibt. Wir erleben diese Existenz voller Wunder und haben täglich diese Wunder vor Augen. Ich habe einen echten Sprung gemacht, als mir die Vielfalt, Dichte, Tiefe und Schönheit jedes Augenblicks bewusst wurde, den wir im Leben auf diesem Planeten zubringen, wenn wir an der Existenz in einer Weise teilhaben, die Natur und Menschen respektiert. Damit will ich niemandem etwas aufdrängen, ich will nur den Mitmenschen an dieser globalen Sichtweise teilhaben lassen.«
Letzte Überlegungen und ein zufälliger Brief
Wenn ich mir die Werke von JPV ansehe, muss ich immer an Alice im Wunderland von Lewis Carroll denken. Natürlich hat Velly mit dem englischen Autor des 19. Jahrhunderts nichts gemein, aber er blickt so ernsthaft und neugierig auf die Dinge wie Kinder. Kleinigkeiten, Objekte, Tierchen, die sich plötzlich verwandeln. Winzige Grashalme, die sprechen, zarte Blüten, hinter denen sich eine Seele, ein Eigenleben verbirgt. Eine unendliche Zahl von imaginierten und zugleich realen Dingen, die hektisch einander jagen. Ein Spiel der Fantasie und der logischen Unlogik, unterhaltsam und poetisch, wo jedes Ding durch ähnlich klingende Bezeichnungen, durch Erinnerungen, Gleichnisse und merkwürdige Assoziationen auf ein anderes anspielt.
Zahllose mikroskopisch kleine, scheinbar zusammenhanglose Dinge verketten sich zu einem wirbelnden Reigen und bilden eine unerschöpfliche Quelle origineller Ansichten. In ihrer Masse schaffen sie eine Form, die alles einschließt, alles enthält und alles repräsentiert: Ein Punkt, das ist alles. Ähnlich wie bei Carroll entführen uns die sichtbaren, alltäglichen Dinge auch bei Velly in eine ganz andere Dimension. Sie knüpfen an das Sichtund Wahrnehmbare an und transportieren dabei augenzwinkernd esoterische Botschaften, die nur für Eingeweihte verständlich sind.
In Massaker an den Unschuldigen irren winzige Körper umher; aller Dinge beraubt, so nackt wie wir auf die Welt kommen, versuchen sie zu flüchten, schmiegen sich ängstlich aneinander. Aus der Ferne betrachtet bilden sie eine erhabene Landschaft, eine grüne, in sanftes Sonnenlicht getauchte Hügelkette, wie man sie von einem Berggipfel aus bewundert. Doch der Himmel ist apokalyptisch. Nichts ist so, wie es erscheint. Die Realität verändert sich, je nach Blickwinkel. Im hellen Sonnenlicht flimmern selbst die Gewissheiten, doch wenn es Nacht wird, kehren sie allmählich zu ihrer alten Kraft zurück. Himmel und Meer stehen auf dem Kopf, spiegeln sich gegenseitig, gehen ineinander über, sodass man sie verwechselt. Wie Yin und Yang. Eine Hälfte verzahnt sich mit der anderen, und nur gemeinsam bilden sie den Kosmos. Der Mensch wird zum integralen Bestandteil der Landschaft. Staub sind wir, und wir werden wieder zu Staub, und dazwischen vollzieht sich das große Wunder des Lebens. Manche warten vergeblich auf das Wunder, andere hingegen, die verstanden haben, begegnen ihm überall und in jedem Augenblick. Folglich ist die große Wahrheit, die wir stets anderswo vermuten, in Wirklichkeit winzig, in greifbarer Nähe, direkt vor unseren Augen.
Wenn man von einem künstlerischen Werk so tief bewegt wird, ist die Arbeit an einer Ausstellung eine wunderbare Erfahrung. Denn beim Recherchieren, beim Kritzeln auf der Exponatliste, die man immer und immer wieder durchgeht, entwickelt sich ein ganz eigenes Verhältnis zu den Werken. Sie gleiten in die Seele, kriechen ins Gehirn, nisten sich im Herzen ein. Dann geschehen höchst eigenwillige Dinge.
Spricht man dann mit den Leihgebern, zumeist nicht bloß Eigentümer, sondern oft hochsensible Menschen, die Vellys Botschaft intuitiv erfassen, dringt man immer weiter in die Persönlichkeit des Künstlers vor. Bei diesen Gesprächen hört man oft bewegende Geschichten, die sich mit den Pflichten und Sorgen des alltäglichen Lebens vermischen, aber immer wieder aufflackern wie das schwache Licht einer kleinen Kerze. Oder man bekommt zufällig einen Brief, so wie ich, kurz bevor ich diesen Text abschloss. Eigentlich hatte ich einen anderen Abschluss geplant, aber nun möchte ich diesen Brief zitieren, weil er hier perfekt als Glosse dazu passt.
»Liebe Freunde von JPV, ich bin Musiker und Produzent, wohne in der Nähe von Formello und hatte als Kind das Vergnügen, JPV kennenzulernen. Er war ein Freund meiner Familie. Meine Erinnerungen drehen sich nicht um die Person des öffentlichen Lebens, sondern um den Privatmann. Wenn ich meinen Erinnerungen freien Lauf lasse, dann erscheint eine charismatische Gestalt, stets mit einer brennenden Gitane im Mundwinkel, oft in ein vielsagendes Schweigen versunken und von einer geheimnisvollen Aura umgeben.
In den Augen eines Jungen ließ das alles auf eine Dimension schließen, die mir damals noch vollkommen unbekannt war: das Innenleben eines Künstlers.
Alles was von JPV ›im Haus‹ übrig ist, ist ein Katalog, ein paar Stiche, eine große Zuneigung und eine hohe Wertschätzung seiner Person und seiner Werke. Ich möchte gerne glauben, dass der Zufall im Leben eine Art Leuchtsignal ist, das uns dazu anregen soll, über Dinge nachzudenken, die stumm unter der Haut sitzen und die wir aus Angst oder Nachlässigkeit nicht wahrnehmen wollen. Um es kurz zu machen, mir sind ein paar Dinge widerfahren, die mich an den Menschen JPV erinnert haben und mich nun veranlassen, ihn in irgendeiner Form zu ehren. Deshalb habe ich begonnen, die Energie, die ich in mir spürte, freizusetzen und in Musik zu überführen, die Kunstform, die mir am nächsten steht. Ich habe Stücke komponiert und bin immer noch dabei, Stücke, die von ihm und seinen Werken inspiriert sind. Mit diesen Zeilen wollte ich nur anfragen, ob wir uns nicht einmal treffen können, um über JPV zu sprechen und unsere Eindrücke auszutauschen, damit ich mein Projekt vollenden kann, den Takt der Musik mit dem Fluss der Bilder und Wörter zu mischen, die Suggestionen des Geistes mit dem Klopfen des Herzens.
Was soll ich noch sagen? Ich weiß, dass niemand besser versteht, was mich bewegt, als ihr, und hoffe, bald eine Antwort auf meine Einladung zu erhalten; und wenn es nur dem Vergnügen dient, sich gemeinsam einer Person zu erinnern, die uns erlaubt hat, durch die Kunst zu ›fühlen‹. Herzlich, Alfonso Anagni.«
Nur große, während ihres irdischen Lebens vielleicht wenig verstandene Künstler sind auch dann noch so präsent, pulsierend und lebendig, wenn ihr Leben bereits zu Ende ist …