Giorgio Soavi
Winterblumen 1989
Elli e Pagani, Mailand
Aus dem Italienischen von Petra Kaiser
katalog Panorama, 2009
Als ich anrief, hatte ich ein kleines Mädchen am Telefon. Auf meine Frage, wo der Vater sei, gab sie mir zur Antwort: Er ist im Bett und schläft. Da es bereits zehn Uhr war, fragte ich nach: Wann steht er denn auf? Antwort: Weiß ich nicht. Langsam gingen mir die Fragen aus. Schließlich fragte ich: Aber wann steht er denn normalerweise auf? Da erklärte mir das Mädchen, der Vater arbeite nachts lange und schlafe deshalb morgens, wie lange könne man nie vorhersagen. Damit war das Gespräch beendet. So konnte ich mir selbst ausmalen, was der Vater des Mädchens nach dem Aufwachen wohl tun würde. Als erstes, noch bevor er das Licht anmacht, zündet er sich eine Zigarette an. Dann schlüpft er in die Holzpantinen, die er sich aus seiner Heimat, der Bretagne, nach Formello mitgebracht hat, und geht in die Küche. Dort setzt er sich an den Tisch, fährt mit den Händen über die strubbeligen Haare und sieht sich neugierig um. So beginnt der Maler Jean-Pierre Velly seine Tage, beschützt von dem Mädchen, das nicht weiß, wann sein Vater aufsteht, bis er irgendwann das Haus verlässt, um ins Atelier zu gehen. Das Atelier ist eine Art weiße Höhle mit felsigen Wänden, die den Raum beherrschen, ihn begrenzen und umschließen wie eine Bergkette die Ebene. Auf dieser Ebene stehen Tische, Lampen, Stühle und eine Presse, um Radierungen zu drucken, und an der Wand hängt ein Schild, auf dem in italienischer Sprache die Warnung steht: »Hier drinnen wird nichts angefasst.«
Vielleicht fürchtet Velly, einer von uns könnte etwas aus seiner Sammlung anfassen oder gar mitgehen lassen: das Skelett einer Katze in einem Schuhkarton, das Gerippe einer toten Maus, einen leonardesken Fledermausflügel, Flügel von Käfern oder die Fetzen einer Schlangenhaut, die hier auf dieser Ebene zwischen den Felsen ihren festen Platz haben. Ob wohl schon einmal jemand etwas davon eingesteckt oder die Skelette angefasst hat, um ein wenig damit zu spielen oder sich über die Schwierigkeiten des Lebens hinwegzutrösten? Eine Seite des Ateliers nehmen Sträuße aus getrockneten Blumen ein, die in einer Art Futterkrippe stecken oder aufgehängt sind und von einer Lampe angestrahlt werden, deren Licht durch dickes Papier gefiltert wird, wodurch jene schummrige Beleuchtung entsteht, die der Künstler sich wünscht. Es riecht nach Wüste, genau wie in den Wüsten von New Mexiko oder Arizona, die nicht aus Sand, sondern aus roter Erde bestehen, welche sich zu scharfkantigen Dünen auftürmt und mit vertrockneten Büschen übersät ist; bei Wind oder Sturm kullern dort Bälle aus den gleichen Trockenblumen oder drahtigen Ästen durch die Luft, wie sie hier in Formello hängen, um beim Zeichnen als Modell zu dienen. Beinah die gesamte Flora der Schöpfung ist vorhanden. Stellen Sie sich vor, man hätte die Wiese aus Botticellis Frühling gemäht, eine minutiös gemalte Wiese, kein zufälliges Herbarium, denn Botticelli hat alles gesammelt und gemalt, was zu seiner Zeit in der Toskana wuchs. Hier, bei Velly, in seinem Atelier, ist das gleiche Grünzeug aus Blättern, Blüten und Früchten versammelt und ausgebreitet, damit der Künstler aus der Bretagne arbeiten kann.
Was Velly macht, wissen wir schon: Er legt seine Blumen an die Ufer eines nordischen Meeres, in eine Fensternische oder lässt sie von der Decke baumeln, im Haus der Emily Brontë, wo Heathcliff und Jean-Pierre Velly, beide wie geschaffen für eine derartige Betrübnis, ihr ureigenes Leben führen, abseits der Gesellschaft. Als Hintergrund verwendet Velly zumeist eine schier unendliche Perspektive, wie sie sich dem Strandgänger an den Ozeanen des Nordens bietet. Dort unten, am unteren Rand seiner Aquarelle und Gemälde, wo die kleinen Wellen sanft ans Ufer schlagen, ja alles Tückische verloren haben, weil unser Auge die Entfernungen reduziert, ist der flammende Osten, bei dem Vellys Auge verweilt, um die Rottöne des Sonnenuntergangs zu studieren, die Abstufungen eines Orange, das sich wie eine reife, tropfende Frucht kopfüber ins Meer stürzt, was mich an den kolossalsten, euphorischsten und dramatischsten Sonnenuntergang erinnert, der je gemalt worden ist, jenen in Altdorfers Alexanderschlacht. En miniature hat Velly einen Sinn für das Grandiose der Naturschauspiele, gepaart mit dem Flügelschlag desjenigen, der zu zeichnen versteht wie die alten Meister. Dabei ist seine Erregbarkeit durch und durch modern, sein nervöses Streben nach Vollkommenheit weit entfernt von der Seelenruhe eines glücklichen Menschen; und sein entgeistertes Gesicht, mit dem er uns verwundert und ratlos ansieht, trägt die Züge eines Visionärs, dem man seine eigenen Werke zur Begutachtung vorlegt. Denn nichts kann einen Visionär mehr in Erstaunen versetzen als seine eigenen Werke. Was macht dieser Schädel da am Meeresufer? Warum zerreißt man Papierblätter und klebt sie dann mit den Rändern übereinander wieder zusammen? Wozu das Flickwerk einer solchen im letzten Moment zusammengefügten Landkarte in einer Geographie, die wir ohnehin nicht kennen, sondern nur der Künstler, der die Karte macht? Nach dieser Methode, das Papier zu reißen und anschließend wieder zu kleben, präpariert Velly den Untergrund für seine Blumenaquarelle.
***
Dieses Jahr ist der Herbst ungewöhnlich mild. Es ist so warm, dass die Blumen noch einmal aufblühen und ein Pullover nur abends gebraucht wird, wenn Velly das Haus verlässt, um mit seiner Tochter Eis essen zu gehen.
In einem Winkel seines Herzens brennt beständig ein Licht, das die Gegenstände erhellt, an denen er arbeitet; gerade sind es Beeren, die im Herbstlicht auf dem Boden liegen, überfangen von einem noch helleren Licht, das mit einer geheimnisvollen Leuchtkraft vom Himmel fällt, wie sie die alten Meister ihren religiösen Bildern, vor allem der Verkündigung, zu verleihen wussten. Ein Lichtstrahl erfasst seine Kehle, während er rauchend dasteht und dem Mädchen lauscht, wie es genüsslich sein lang ersehntes Eis schleckt; und dann hört er ein Knistern, wie es wohl die Trockenblumen gemacht haben, als sie bei grellem Licht und sengender Hitze verdorrten. Und wenn er dann nach Hause kommt, nimmt er eine Platte und beginnt, die Winterblumen zu radieren, zeichnet die gebündelten Stiele mit dicken, schwarzen Beeren, die sich bereitwillig vom nächtlichen Licht streicheln lassen und rund und glänzend daliegen wie Heidelbeeren, die gerade aus dem Wald kommen. Leise wie ein Mäuschen kratzt Velly an seiner Platte, jeden Tag ein bisschen; oder vielmehr jede Nacht, während seine Tochter, die nicht weiß, wann der Vater aufsteht, mit ihrem kleinen Eisbauch tief schläft.
Langsam füllt sich die Platte mit einer Landschaft; die Zweige mit den Beeren zeigen in alle Richtungen, wie bei einem Pfad auf einer Hochebene, der bisweilen zwischen höheren Büschen verschwindet und dann wieder auftaucht. Wer wandert, kommt dort vorbei und wird unterwegs feststellen, dass Füße und Augen auf dem Weg zum Gipfel wahre Kunststücke vollbringen müssen. Gerade wenn es besonders anstrengend wird und man zum Verschnaufen innehalten muss, bietet sich auf halber Strecke Gelegenheit zur Aussicht in beide Richtungen, das klassischste aller Motive: das untere Stück, das man schon geschafft hat, und der Weg zum Ziel, der noch vor einem liegt. Das untere Zweigbündel im Blick wird Jean-Pierre Velly weitere kurze, gewundene Zeichen hinzufügen, die Abkürzungen, die sich zwischen den Falten der Hochebene hindurchschlängeln; während sich oben bereits der offene Himmel abzeichnet: Von dort wird das Licht kommen. Bei den alten Meistern steht dieses Licht für die Inbrunst, mit der die Maler das Unmögliche vollbringen, die Erleuchtung, das Wunder, von dem jeder träumt, dass er einen Augenblick lang daran teilhat. So ist es auch bei den Bildern oder der Radierung mit den Winterblumen von Jean-Pierre Velly.
Aus: Jean-Pierre Velly, Elli e Pagani, Mailand 1988