Velly Panorama Rosaria Fabrizio
Velly Panorama Rosaria Fabrizio
JPV. Geschichte einer Ausstellung fast 20 Jahre nach dem Tod des Künstlers
Aus dem Italienischen von Petra Kaiser
Giuliano de Marsanich und die Galerie Don Chisciotte
Giuliano de Marsanich at the Galleria Don Chisciotte, 2006
Giuliano de Marsanich mit Jean-Pierre Velly, 1977
Die Begegnung mit de Marsanich war der eigentliche Beginn unseres Abenteuers, von dem ich nun berichten will. Er erzählte uns von den Anfängen des Künstlers, schilderte, wie sich aus einer eher zufälligen Begegnung eine zwanzigjährige Zusammenarbeit ergeben hatte, die nur durch den fatalen Tod des Künstlers ein Ende fand. Er erzählte, wie die Berühmtheiten aus Film und Theater plötzlich in seiner kleinen Kunstschmiede auftauchten, um herumzustöbern, und von Vellys Arbeiten so begeistert waren, dass sie etliche davon erwarben. Auch bei der ersten Einzelausstellung erschien ein Großteil der Filmprominenz dieser goldenen Jahre: Gassman, Tognazzi, Zavattini … Später wurde das als reine Modeerscheinung abgetan, denn beim großen Publikum blieb JPV weitgehend unbeachtet. Doch alle, die ihn kannten, waren offenbar so hingerissen, dass sie zu Sammlern wurden. Deshalb ist das auch unser Ausgangspunkt, denn wir wollen den Weg seiner Sammler verfolgen und von ihrer bedingungslosen Hingabe an seine Kunst berichten, um uns, sozusagen vom anderen Ende, diesem großen Künstler und Menschen zu nähern.
Giorgio Soavi, Olivetti und Barilla
Zwei Unternehmen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch die gleiche Kunstleidenschaft teilen, insbesondere für die gegenständliche Kunst der Gegenwart. Durch Vermittlung von Giorgio Soavi erhielt Velly von Olivetti einen Auftrag für 13 Aquarelle, die zur Illustration des Firmenkalenders von 1986, einer Jahresgabe für Mitarbeiter, Freunde und Kunden, vorgesehen waren. Damals hielt man bei Olivetti, auch dank des unermüdlichen Engagements von Giorgio Soavi, noch an der Philosophie des Unternehmens fest, die der 1960 plötzlich verstorbene Firmengründer Adriano Olivetti einst eingeführt hatte, als das Unternehmen zu den florierendsten in Italien zählte. Dort kümmerte man sich nicht nur um das wirtschaftliche Wachstum, sondern auch um die kulturelle Bildung der Mitarbeiter. Zu Lebzeiten von Adriano Olivetti ging in dem Werk in Ivrea (Provinz Turin) alles ein und aus, was in der italienischen Kunst und Kultur einen Namen hatte, darunter Moravia und Pasolini, um nur einige zu nennen. Während der Arbeitszeit hielt man dort Geschichtsseminare ab, zeigte Filme und organisierte Gemäldeausstellungen. Getreu dem Wahlspruch, dass die geistige Entwicklung nur durch das Streben nach Schönheit und Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit gefördert werden kann. Adriano Olivetti wollte die jungen Leute an ein Verständnis der kulturellen Werte heranführen. »Wenn sie in ihrem Leben mit dem Schönen in Kontakt kommen, wird ihnen das helfen, bei ihrer zukünftigen Arbeit ihr bestes zu geben.« So sein Statement in einem seiner letzten Interviews.
Um Schönheit ging es auch Soavi, genau die Schönheit, die ihn in Vellys Aquarellen zuallererst und vor allem beeindruckt hatte.
So schrieb er, kurz nachdem er die ersten Werke von Velly gesehen hatte (in: Epoca, Jg. XXXV, Heft 1749, Mailand, 13. April 1984): »Ich glaube, sein Herbarium ist frisch gepflückt, und Velly schaut darauf wie ein Kind, das gerade die große Entdeckung macht, dass Gras unseren Planeten umhüllt. Jeder aufrechte Grashalm erinnert zwangsläufig an das große Rasenstück von Dürer, jeder Hase ist ein Dürer. Alles, was nach diesem Feldhasen kam, war nichts anderes als eine Variation des Themas. Doch bei Velly sind Blumen und Gräser zwar transparent wie bei Dürer, zugleich aber auch fleischig, aus grünem Fleisch, voll duftender, saftiger Fasern; diese Grashalme kennen wir, schon tausendmal, bei jedem Ausflug, haben wir darauf herumgekaut, bis sich dieser einzigartige, bittere Geschmack im Mund einstellt. […]
Seine Zeichnungen lösen in mir die gleiche Inbrunst aus wie die sakrale Kunst, die Verkündigung, die Geburt Jesu, die Erschaffung der Welt. Staunen, Inbrunst. Die Welt kocht, rast aber nicht in die Katastrophe, denn für einen Augenblick wurde sie angehalten oder hat sich selbst angehalten, um ein neu geborenes Geschöpf zu betrachten; und die Atmosphäre um dieses Ereignis ist die gleiche, die sich einem mitteilt, wenn man die Meisterschaft sieht, mit der Jean-Pierre seine Gräser gezeichnet hat.«
Und wieder war es Soavi, der den bekannten italienischen Pastafabrikanten Pietro Barilla (1913–1993), auch er ein Sammler zeitgenössischer Kunst, mit Vellys Werk bekannt machte. Sein Sohn Luca erinnert sich an das Treffen zwischen seinem Vater und Velly: »Mein Vater hatte nicht mehr die Zeit, Velly richtig kennenzulernen. Aber 60 ich weiß, dass er von seiner Feinsinnigkeit und Sensibilität (die er sofort spürte) fasziniert war und dass sein plötzlicher Tod ihn stark erschüttert hat. Ich weiß noch genau, wie verstört er war und wie sehr er es bedauerte, dass er nichts hatte tun können, um die Tragödie zu verhindern.«
In dieser Ausstellung in Parma wurden vier Werke von Velly gezeigt, die Roberto Tassi eigens für diesen Anlass ausgewählt hatte: Verzweiflung des Malers (1987), Selbstbildnis (1988), Die Eiche (1989) und Die grosse Stunde (1989).
Über einige dieser Bilder schrieb Soavi 2002 in seinem Artikel La realtà oltre l’immagine: »[…] In dem Bild Verzweiflung des Malers aus dem Jahre 1987 ist die Welt gespalten: oben eine kosmische Szene mit Lavabröckchen, die den Himmel füllen, unten, zu unseren Füßen, die Verästelung dieser Lapilli zu einem unheimlichen Sternbild. Dabei weiß man nicht, welcher der beiden Teile ihn mehr erregt. Doch mit Sicherheit lag die Verzweiflung des Künstlers in diesem weichen, aber unheimlichen LuziferKosmos.«
Und weiter (Il Giornale, La luce all’ombra della quercia, 30. Mai 1990): »Die grosse Eiche, die in seiner letzten Ausstellung in Parma erstrahlte (gemeint ist die Ausstellung in der Galerie Sanseverina), gehörte zum Park einer Villa in der Gegend von Sutri. Velly hat den Augenblick festgehalten, in dem Licht und Schatten sich noch zu behaupten versuchen und aufrecht stehen, auch wenn das Tageslicht sich bereits verabschiedet und zur Ruhe legt. Die Polster, von denen man zuschaut, standen nicht bei der Villa, aber auch nicht auf der anderen Seite, wo die Sonne unterging. Bald wird ein dichter Schatten heraufziehen, feucht und tropfend, ein Abgrund, in dem nichts mehr wächst. Dieses Bild voller Vorahnungen wirkte wie ein Selbstbildnis, so ernst, aber auch voller Lust, sich selbst im Spiegel der Malerei zu betrachten, um durch diesen Blick ein Stück des eigenen Grauens mitzuteilen. Einen Blick, den JPV so gut wiederzugeben verstand, da er die gleiche Spannung ausdrückt, die zwischen Licht und Schatten herrscht, ein Reservoir der Angst, das Leben könne gehen, während wir noch da sind.«
Die große Stunde
l’Ora Grande, 235 x148 cm, Sammlung Barilla, Parma
Im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung, JPV sei ein Pessimist gewesen, sagte er selbst in einem Gespräch mit Jean-Marie Drot im Jahre 1989: »Anstatt von Pessimismus würde ich lieber von Realismus sprechen. Ich meine: ›Das Leben ist eine wunderbare Sache, die in jedem Fall aber schrecklich schlecht ausgeht.‹ Wir leben; Rom ist da; die Luft ist klar; doch was immer das Warum und Wie dieser mysteriösen Angelegenheit sein mag, eines Tages sterben wir. Der Tod eines Einzelnen ist äußerst dramatisch für den, der stirbt, und relativ wenig dramatisch für alle anderen. […] Mit den Farben möchte ich ausdrücken, dass alles nicht so schlimm ist, dass ich zwar eines Tages sterben werde, aber die Menschheit weiter existiert, und selbst wenn das Leben eines Tages von der Erde verschwinden würde … vielleicht wirkt diese Art Realismus dramatisch, aber in Wirklichkeit ist sie das gar nicht.«
Velly hatte ein direktes Verhältnis zum Tod. Er wusste, dass er zum Leben dazugehört. Ein Kreis, der sich schließt. Alles ist Anfang und Ende. Unser Leben beginnt mit der Empfängnis, diesem grandiosen, geheimnisvollen Ereignis, dann läuft die Zeit, die wir hektisch zu nutzen versuchen, sobald der Vorhang sich gehoben hat. Zeit haben wir nie genug. Aber Zeit wozu? Der Gedanke an den Tod behindert uns bei unseren Vorhaben, durchkreuzt unsere Pläne, deshalb verdrängen wir ihn, schieben ihn von uns, vermeiden es, daran zu denken … Im Gegensatz dazu sah JPV den Tod als Hoffnung. Die Hoffnung auf eine Aussöhnung mit sich selbst, wo alles Leiden für immer schweigt und das nutzlose Gewicht des Körpers endgültig von einem abfällt. Lässt man sich auf das Spiel mit Umkehrungen ein, wie Velly es beispielsweise bei der betörend schönen Rosa in der Sonne vorführt, die sich in einem Schrotthaufen spiegelt – zwei Seiten der gleichen Medaille –, so könnte man fast auf die absurde Idee kommen, JPV habe das Geheimnis des Lebens gekannt: nämlich sich vor dem Tod nicht zu fürchten.
Pierre Higonnet und seine magische Begegnung mit Jean-Pierre Velly
Als ich die Internetseite des JPV-Freundeskreises entdeckte, schrieb ich eine kurze Mail an Pierre und Julie Higonnet und teilte ihnen in wenigen Zeilen mit, dass wir im Panorama Museum gerne eine Velly-Ausstellung machen würden.
In wenigen Stunden wurde ich mit Fragen und Bemerkungen überhäuft. In seiner Begeisterung kaum zu bremsen, preschte Higonnet so ungestüm voran, dass wir einfach mitgerissen wurden und schlagartig mittendrin waren, im Herzen all dessen, was das Werk, den Künstler und die Organisation der Ausstellung betraf. Mit seinen zerzausten, schneeweißen Haaren, dem scheinbar unbeteiligten Blick, dem pausbäckigen Gesicht und seinem witzigen Akzent ließ sein Äußeres kaum erahnen, welch tiefgründiges Gemüt sich darunter verbarg. Higonnet hatte JPV nur ein einziges Mal getroffen, und zwar zwei Wochen vor dessen Tod. Damals war er selbst noch ein ziemlich unerfahrener junger Mann, der über die Fährnisse des Lebens so gut wie nichts wusste. Und dennoch – so schreibt er auf der Internetseite – blieb das für ihn eine unvergessliche Erfahrung, die ihn nachdrücklich geprägt hat. Eine spannende Geschichte, denn nur durch Zufall, fast im Vorbeigehen, geriet er an JPV, und doch nahm sein Leben dadurch eine schicksalhafte Wende.
Zwei Fragen und schon ist er nicht mehr zu stoppen: »Die Druckgrafik war schon immer meine Leidenschaft. Meine Mutter stammte aus einer Familie von Antiquitätenhändlern, während sich die Familie meines Vaters mehr mit Kunstdruck beschäftigte. Daher erschien mir die Grafik von Anbeginn wie ein natürlicher Berührungspunkt dieser beiden Kulturen. Als Kind ging ich jeden Mittwoch mit meiner Mutter in den Louvre und ich weiß noch, dass ich mit der zeitgenössischen Kunst so meine Schwierigkeit hatte. Ich fand sie hässlich und uninteressant. Es blieb mir lange ein Rätsel, warum das 20. Jahrhundert so wenig ernstzunehmende Kunstwerke hervorgebracht hat, bis ich endlich darauf kam, dass sich die Galerien in ihren Programmen mehr nach Markterfordernissen richteten, als nach Schönheit.
Giuliano de Marsanich mit Pierre Higonnet, 2006
Nach der Vernissage gingen wir alle zum Essen in ein Restaurant in der Nähe der Galerie. Es war ein ganz besonderer Abend. Denn ich saß zufällig neben JPV und wir unterhielten uns den ganzen Abend, unter anderem auch deshalb, weil ich damals noch kaum Italienisch sprach. JPV war klein, schmächtig, hatte eine richtige Mähne, die ziemlich Eindruck machte. Er redete wenig, strahlte aber eine starke Energie aus, fast wie eine Aura, eine Kraft, die schwer zu beschreiben ist. Es kommt im Leben nicht oft vor, dass man einen Menschen trifft, der, obwohl er kaum redet bzw. wenig mit Worten ausdrückt, trotzdem einen inneren Reichtum offenbart, der bei seinem Gesprächspartner den stärksten Eindruck hinterlässt. Wir plauderten den ganzen Abend, doch in Wirklichkeit wusste ich gar nicht, wer er war, bewusst war mir nur, dass ich einen ganz besonderen Menschen vor mir hatte. Ein paar Wochen später, als ich schon längst wieder in Venedig war, erfuhr ich von meinem Bekannten Serge d’Urach, einem Schweizer Künstler, dass JPV auf tragische Weise im See von Bracciano ertrunken war. Diese Nachricht verstörte mich zutiefst. Dann sagte d’Urach, der Velly in den achtziger Jahren gut gekannt hatte, einen Satz, der mir noch lange im Gedächtnis blieb. ›Lieber Pierre, JPV war der Rolls-Royce unter den Grafikern!‹ Diese Worte haben sich mir tief eingeprägt. Später eröffnete ich auf der Giudecca in Venedig die Galleria del Leone und spezialisierte mich auf Papierarbeiten, zum größten Teil Druckgrafiken, aber auch Zeichnungen und Aquarelle. Ich vertrat verschiedene Künstler, aber d’Urachs Worte ließen mich nicht los. 1993/1994 hatte ich dann Gelegenheit, mich Vellys Welt zu nähern, denn in Venedig fand die Ausstellung Du Fantastique au Visionnaire statt und einer der Kuratoren war Michel Random. Ich erinnere mich noch, dass Random unbedingt wollte, dass JPV auf der Ausstellung vertreten wäre, und so schlug ich ihm vor, mich darum zu kümmern. Ich nahm Kontakt mit Vellys Frau Rosa Estadella in Formello auf und lud sie ein, ihre Arbeiten und eine Grafikreihe von JPV in Venedig auszustellen.
Giuliano mit Gianni Scatafassi
Michèle Broutta mit Giuliano, 1983
Auf diese Art wollte ich die vielen Einzelteile zusammenfügen, um das komplexe Puzzle wiederherzustellen, das sich nach dem Tod des Künstlers noch weiter zersplittert hatte. Und jedes Mal, wenn ich seine Werke betrachtete, geschah etwas Magisches, so etwas passiert nur bei großen Künstlern und echten Meisterwerken.
Gerade in seinen Grafiken entdeckte ich fortlaufend etwas Neues, denn ihr Mikrokosmos ist voller Symbole, versteckter Bilder und kleiner Inschriften. Auch heute noch stoße ich immer wieder auf wichtige Dinge, nicht bloß Details, sondern wirklich neue Interpretationsansätze. Diese Beschäftigung hat mein Leben geprägt.
Julie Grislain Higonnet, 2009
In diesem Jahr fand die Biennale statt und ich hatte sehr viel zu tun. Deshalb arbeiteten Julie und ich Tag und Nacht, zumal die Zeit langsam knapp wurde.
Slobo, Catherine und Arthur Velly, Pierre Higonnet,
le Maire de Clermont-Ferrand, Julie Grislain
Seit 2003 haben wir große Fortschritte gemacht und das Gesamtwerk weitgehend erschlossen. Es umfasst ca. 300 Unikate und 97 Druckplatten, von denen etwa fünfzehn leider verloren gingen. Außerdem haben wir rund 300 Stunden Videofilm mit Interviews von Freunden, Verwandten und Sammlern gedreht. Und auch für das Werkverzeichnis haben wir eine Unmenge Material gesammelt.
Gern würde ich diesen großen Künstler auch in anderen Ländern bekannt machen. Ich denke dabei an Frankreich, Deutschland und Österreich, aber auch an die Schweiz und natürlich an Amerika.
163 Autoritratto a grandezza naturale 1987
Bleistift auf braunem Papier, 76 x 57 cm
Letzte Überlegungen und ein zufälliger Brief
Wenn ich mir die Werke von JPV ansehe, muss ich immer an Alice im Wunderland von Lewis Carroll denken. Natürlich hat Velly mit dem englischen Autor des 19. Jahrhunderts nichts gemein, aber er blickt so ernsthaft und neugierig auf die Dinge wie Kinder. Kleinigkeiten, Objekte, Tierchen, die sich plötzlich verwandeln. Winzige Grashalme, die sprechen, zarte Blüten, hinter denen sich eine Seele, ein Eigenleben verbirgt. Eine unendliche Zahl von imaginierten und zugleich realen Dingen, die hektisch einander jagen. Ein Spiel der Fantasie und der logischen Unlogik, unterhaltsam und poetisch, wo jedes Ding durch ähnlich klingende Bezeichnungen, durch Erinnerungen, Gleichnisse und merkwürdige Assoziationen auf ein anderes anspielt.
Zahllose mikroskopisch kleine, scheinbar zusammenhanglose Dinge verketten sich zu einem wirbelnden Reigen und bilden eine unerschöpfliche Quelle origineller Ansichten. In ihrer Masse schaffen sie eine Form, die alles einschließt, alles enthält und alles repräsentiert: Ein Punkt, das ist alles. Ähnlich wie bei Carroll entführen uns die sichtbaren, alltäglichen Dinge auch bei Velly in eine ganz andere Dimension. Sie knüpfen an das Sichtund Wahrnehmbare an und transportieren dabei augenzwinkernd esoterische Botschaften, die nur für Eingeweihte verständlich sind.
In Massaker an den Unschuldigen irren winzige Körper umher; aller Dinge beraubt, so nackt wie wir auf die Welt kommen, versuchen sie zu flüchten, schmiegen sich ängstlich aneinander. Aus der Ferne betrachtet bilden sie eine erhabene Landschaft, eine grüne, in sanftes Sonnenlicht getauchte Hügelkette, wie man sie von einem Berggipfel aus bewundert. Doch der Himmel ist apokalyptisch. Nichts ist so, wie es erscheint. Die Realität verändert sich, je nach Blickwinkel. Im hellen Sonnenlicht flimmern selbst die Gewissheiten, doch wenn es Nacht wird, kehren sie allmählich zu ihrer alten Kraft zurück. Himmel und Meer stehen auf dem Kopf, spiegeln sich gegenseitig, gehen ineinander über, sodass man sie verwechselt. Wie Yin und Yang. Eine Hälfte verzahnt sich mit der anderen, und nur gemeinsam bilden sie den Kosmos. Der Mensch wird zum integralen Bestandteil der Landschaft. Staub sind wir, und wir werden wieder zu Staub, und dazwischen vollzieht sich das große Wunder des Lebens. Manche warten vergeblich auf das Wunder, andere hingegen, die verstanden haben, begegnen ihm überall und in jedem Augenblick. Folglich ist die große Wahrheit, die wir stets anderswo vermuten, in Wirklichkeit winzig, in greifbarer Nähe, direkt vor unseren Augen.
Wenn man von einem künstlerischen Werk so tief bewegt wird, ist die Arbeit an einer Ausstellung eine wunderbare Erfahrung. Denn beim Recherchieren, beim Kritzeln auf der Exponatliste, die man immer und immer wieder durchgeht, entwickelt sich ein ganz eigenes Verhältnis zu den Werken. Sie gleiten in die Seele, kriechen ins Gehirn, nisten sich im Herzen ein. Dann geschehen höchst eigenwillige Dinge.
Spricht man dann mit den Leihgebern, zumeist nicht bloß Eigentümer, sondern oft hochsensible Menschen, die Vellys Botschaft intuitiv erfassen, dringt man immer weiter in die Persönlichkeit des Künstlers vor. Bei diesen Gesprächen hört man oft bewegende Geschichten, die sich mit den Pflichten und Sorgen des alltäglichen Lebens vermischen, aber immer wieder aufflackern wie das schwache Licht einer kleinen Kerze. Oder man bekommt zufällig einen Brief, so wie ich, kurz bevor ich diesen Text abschloss. Eigentlich hatte ich einen anderen Abschluss geplant, aber nun möchte ich diesen Brief zitieren, weil er hier perfekt als Glosse dazu passt.
»Liebe Freunde von JPV, ich bin Musiker und Produzent, wohne in der Nähe von Formello und hatte als Kind das Vergnügen, JPV kennenzulernen. Er war ein Freund meiner Familie. Meine Erinnerungen drehen sich nicht um die Person des öffentlichen Lebens, sondern um den Privatmann. Wenn ich meinen Erinnerungen freien Lauf lasse, dann erscheint eine charismatische Gestalt, stets mit einer brennenden Gitane im Mundwinkel, oft in ein vielsagendes Schweigen versunken und von einer geheimnisvollen Aura umgeben.
In den Augen eines Jungen ließ das alles auf eine Dimension schließen, die mir damals noch vollkommen unbekannt war: das Innenleben eines Künstlers.
Alles was von JPV ›im Haus‹ übrig ist, ist ein Katalog, ein paar Stiche, eine große Zuneigung und eine hohe Wertschätzung seiner Person und seiner Werke. Ich möchte gerne glauben, dass der Zufall im Leben eine Art Leuchtsignal ist, das uns dazu anregen soll, über Dinge nachzudenken, die stumm unter der Haut sitzen und die wir aus Angst oder Nachlässigkeit nicht wahrnehmen wollen.
Um es kurz zu machen, mir sind ein paar Dinge widerfahren, die mich an den Menschen JPV erinnert haben und mich nun veranlassen, ihn in irgendeiner Form zu ehren. Deshalb habe ich begonnen, die Energie, die ich in mir spürte, freizusetzen und in Musik zu überführen, die Kunstform, die mir am nächsten steht. Ich habe Stücke komponiert und bin immer noch dabei, Stücke, die von ihm und seinen Werken inspiriert sind. Mit diesen Zeilen wollte ich nur anfragen, ob wir uns nicht einmal treffen können, um über JPV zu sprechen und unsere Eindrücke auszutauschen, damit ich mein Projekt vollenden kann, den Takt der Musik mit dem Fluss der Bilder und Wörter zu mischen, die Suggestionen des Geistes mit dem Klopfen des Herzens.
Was soll ich noch sagen? Ich weiß, dass niemand besser versteht, was mich bewegt, als ihr, und hoffe, bald eine Antwort auf meine Einladung zu erhalten; und wenn es nur dem Vergnügen dient, sich gemeinsam einer Person zu erinnern, die uns erlaubt hat, durch die Kunst zu ›fühlen‹. Herzlich, Alfonso Anagni.«
Nur große, während ihres irdischen Lebens vielleicht wenig verstandene Künstler sind auch dann noch so präsent, pulsierend und lebendig, wenn ihr Leben bereits zu Ende ist …